Patricia Merkel

Rezension "Unter dem Vollmond"

Patricia Merkel

Linda Budinger machte sich bereits mit Romanen zum Rollenspiel DAS SCHWARZE AUGE (DER GEISTERWOLF, GOLDENER WOLF, EISWOLF), und nicht zuletzt dem Auftakt ihrer All-Age-Trilogie um DIE GREIFENRITTER VON ALNORIS (DIE NEBELBURG) einen Namen. UNTER DEM VOLLMOND beschert uns die Autorin nun den fünften Band der exquisit gestalteten Sammleredition ARS LITTERAE, die im Jahre 2009 das Licht der Welt erblickte und seither die geneigte Leserschaft regelmäßig mit einem Verbund von Text und Kunst verwöhnt.

Noch 1989 ist Verena Seiler ein ganz normaler Teenager im Alter von dreizehn Jahren. Bis zu jenem einschneidenden, alles verändernden Unfall, bei dem Vater, Mutter und die kleine Schwester im grünen Lichtschimmer diese Welt verlassen.
Vierzehn Jahre später kommt ihr diese plötzlich erwachte Gabe, den Gesundheitszustand eines Menschen zu erkennen, als Pflegekraft zugute. Es ist niemals leicht, die Aura eines sterbenden Menschen verblassen zu sehen. Nach vollendetem Studium wäre sie als Ärztin vielleicht in der Lage, rechtzeitig entgegen zu wirken.
Auf ihrem Heimweg um den Blankenrainer Park holt sie ihre Fähigkeit erneut ein, als sie zwischen der Bepflanzung eine olivgrüne Aura ausmacht, die typisch für leblose Körper ist. Und der Mörder scheint sich noch in unmittelbarer Nähe zu befinden. Ein Wettlauf gegen die Zeit und ihren Verfolger...
Verena kann nach dem Schreck erst einmal bei ihrer Freundin Martina Renser, kurz Tina, unterkommen. Eine Schutzverwahrung lehnt sie ab.
In den nächsten Tagen beherrschen Meldungen über den neuen ‚Lumpensammler-Mord’ die Medien. Selbst Verenas Foto macht die Runde. Doch diese ungewollte Berühmtheit kostet sie den Job. Nicht nur das. Beim Verlassen des Klinikgeländes scheint ihr erneut ein Verfolger dicht auf den Fersen.
Ein Segen, wartet bereits ein neues Arbeitsangebot in der angesammelten Post auf sie. Wolf von Hagendorf benötigt für den Zeitraum von sechs Wochen eine Pflegerin für seine körperlich leidende Mutter, Sidonie von Hagendorf. Ein guter Anlass, dem Presserummel und dem großen Unbekannten zu entfliehen, der laut Aussage ihrer Nachbarin bereits vor ihrer Wohnungstür herumlungerte. Für ihre Pläne bezüglich des Studiums kommt ihr ein wenig Ruhe in der Lüneburger Heide, weitab vom Schuss, ebenfalls gelegen.
Nach ihrer Ankunft in Weißenbach wird sie zunächst von Hagendorf herumgeführt. Ein Gebäude mit Geschichte und ungewöhnlichem Grundriss erwartet sie. Es beinhaltet den alten, historischen Kern, umgeben von neuen Mauern und zusätzlichen Seitenflügeln für Garage, Werkstätten und Wirtschaftsräume. Das Interieur stammt aus verschiedenen Stilepochen, ergibt dennoch ein gefälliges Gesamtbild. Wolf und Sidonie von Hagendorf wirken wie Relikte einer vergangenen Zeit.
Der Gesundheitszustand Sidonies gibt Verena Anlass zur Sorge, geht er doch deutlich über die Möglichkeiten häuslicher Pflege hinaus. Sie befürchtet, die zerbrechliche, alte Dame wird ihre Kur im französischen Heilbad Valedom gegebenenfalls nicht mehr antreten können.
Nichtsdestotrotz spielt sich mit den Tagen ein regelmäßiger Rhythmus ein. Nach der morgendlichen Grundversorgung hat Verena ein paar Stunden zur freien Verfügung, in denen sie sich die mitgebrachten Lehrbücher und Unterlagen der Uni vorknöpft. Schließlich das Mittagessen, gelegentliche Aufgaben am Nachmittag, Abendessen und Vorbereitungen zur Nacht. Dazwischen bleibt der jungen Frau ausreichend Zeit, sich in Weißenbach umzuschauen und sich einen groben Plan zu machen.
Ihre Briefe an ihre Freundin bleiben unbeantwortet. Es gibt keine Verbindung zur Außenwelt.
Die labyrinthischen Gänge und Treppen, geheime Türen, die dunklen Ölgemälde und die allseits herrschende Finsternis schlagen ihr nach geraumer Zeit aufs Gemüt. Nicht allein der Staub der Jahrhunderte lastet auf dem alten Herrschaftssitz. Auch die Patientin bleibt der Pflegekraft fremd und verhält sich wenig zugänglich.
Da von den Hagendorfs wahrlich nichts über die Familie oder sonst irgend etwas zu erfahren ist, macht sich Verena auf eigene Faust auf die Suche nach Fakten und durchstöbert die alten Schreibtische der verlassenen Zimmer nach Unterlagen zur Geschichte des Hauses und seiner Bewohner.
Anstatt Abstand von den schrecklichen Ereignissen in Blankenrain zu gewinnen und zur Ruhe zu kommen, fühlt sie sich zunehmend unwohl. Von unheimlichen Empfindungen und dem starken Gefühl, beobachtet zu werden, heimgesucht, plagen sie innere Unruhe und wenig erholsamer Schlaf mit mystischen Träumen.
Ob dies allein an der fremden Umgebung liegen kann?
Wispernde Stimmen und Phantome im Spiegel wähnen sie kurz vor einem seelischen Zusammenbruch.
Als Verena schließlich eine Warnung vom Gärtnergehilfen erhält, fasst sie einen Entschluss. Zeit, dem unheimlichen Anwesen den Rücken zu kehren. Doch wie weit wird sie schlussendlich kommen?

In sechzehn Kapiteln, Pro- und Epilog gewährt uns Linda Budinger in dritter Person Singular Einblick in einige turbulente Wochen der alleinstehenden Studentin und Krankenpflegerin Verena Seiler.
Der Prolog offenbart anhand eines tragischen Unfalls Verenas drittes Auge, das im Leben der jungen Frau sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich führt.
Im Folgenden bedient sich die Autorin einer grausamen Mordserie, gefährlicher Verfolgungsjagden, eines imposanten, wenn auch finsteren Herrensitzes fernab der Zivilisation, einer Familie gehobener Gesellschaft mit einer Jahrhunderte zurückreichenden Geschichte und forschungswütigen Wissenschaftlern, um das Fundament für einen atmosphärischen Roman zu erschaffen, der Gegenwart und Vergangenheit vereint.
Die Handlung wird von einer Handvoll Charaktere getragen. Insbesondere Verena Seiler wirkt auf Grund der realitätsnahen Darstellung ihrer Gedanken und Emotionen glaubhaft und nachvollziehbar. Der Leser erlebt mit ihr die geheimnisvolle Stimmung im Gemäuer, entdeckt mit ihr düstere, verwinkelte Gänge, Geheimtüren sowie alte Dokumente und Bilder mit verblüffender Ähnlichkeit zu lebenden Personen. Auch Träume und Visionen, Stimmen, Geräusche und Gerüche sollen nicht im Verborgenen bleiben. Sie ist alles in allem eine Heldin mit Gebrechen und Ängsten.
Ebenso sind Sidonie und Wolf von Hagendorf, eingeführt als Mutter und Sohn, ein entzückendes Gespann mit allerhand Potenzial.
Matthias Fechner, dem vermeintlichen Gehilfen von Gartenbau Engerlich, kommt eine finale Schlüsselrolle zu. Die Ausarbeitung seiner Person ist allerdings relativ flach. Der Grund für sein Engagement im Verlauf der Handlung wirkt etwas schwach. Hier hätte Linda Budinger deutlich mehr herausholen können.
Vor dem alles klärenden Showdown sorgen überraschende Höhepunkte ebenso wie beiläufig erwähnte Details für angemessene Gänsehaut. Architektonische Finessen, Ansätze der Alchimie und der Blue Moon, jener sagenumwobene zweite Vollmond innerhalb eines Kalendermonats, halten das Gedankenkarussell in Gang.

Nach einem ausführlichen Glossar verwendeter Begriffe und Titel aus Literatur, Film und Theater folgen Informationen zur Autorin am Ende des Romans.

ARS LITTERAE hebt sich durch ansprechende Ausstattung handlicher Paperbacks hervor. So bietet auch UNTER DEM VOLLMOND mittels Cover- und Innengrafiken von Andrä Martyna sowie dem obligatorischen Umschlaglayout aus dem Atelier Bonzai Künstlerisches fürs Auge.

Fazit

Spannend, geheimnisvoll und romantisch!
Linda Budinger fesselt mit abwechslungsreicher Unterhaltung im Stil des klassischen Schauerromans. Nicht nur für Sammler der ARS LITTERAE empfehlenswert.


26. Mai. 2010 - Patricia Merkel