Rezension "Die Weihnachtsbraut"

Elmar Huber - LITERRA, CL

„Stellen Sie sich das vor! Da existiert inmitten einer intellektuell, gesundheitlich und sozial erschreckend heruntergekommenen Familie ein Mythos, eine Weltanschauung, wie Sie sie bei keiner anderen Menschengruppe in der Stadt finden: Eine voll ausgeprägte Religion, die, ihrer Ansicht nach, aus vorchristlicher Zeit stammt – ein Clanbewusstsein, das so übermäßig ausgeprägt ist, dass sich die Mitglieder nicht als ethnische Besonderheit, sondern als Rasse für sich betrachten – und eine psychische Struktur, die gleichsam zum Erbgut der Familie zählt und nach deren Anschauung auch Erbgut ist. Ich muss gestehen, ich war ziemlich durcheinander, als ich die Leute entdeckt habe.“ -

INHALT

Als ihre Tante Daniele eine Kontaktanzeige im Namen der geschiedenen Fiona Rothenstein beantwortet, lässt sich die Bibliotheksdokumentarin nach anfänglichem Zögern auf das ungewisse Abenteuer ein. Ihr Gegenüber, der steife aber offensichtlich gebildete und gepflegte Maurice Mersenbeck, macht sie – trotz seiner menschenscheuen Art – neugierig. Seine Familie erwartet von ihm, zu heiraten und seine zukünftige Frau wird alle Vorzüge eines Lebens ohne finanzielle Sorgen genießen. Angeblich ist es auch für seine Reputation als Genealoge zuträglicher, als verheirateter Mann auftreten zu können.
Eine anonyme Warnung, Mersenbeck nicht wieder aufzusuchen, weckt die Neugier in Fiona und sie erkundigt sich über die Hafengegend, in der das Familienanwesen der Mersenbecks steht. Bei ihren Nachforschungen erfährt Fiona von einem degenerierten Menschenschlag, der Siblinge genannt wird und angeblich von Mischwesen einer parallelen Evolutionslinie abstammt. Wesen mit einer eigenen Mythologie, eigenen Gesetzen und eigenen Riten.

- „Aber es soll tatsächlich noch Hutzln geben – auch heute noch, hat mir einer erzählt. Ekliges Krüppelzeug, das sich im Krottenried ‚rumtreibt und überall, wo’s Wasser gibt, am ganzen Fluss entlang bis unten zu den Länden und den alten Handelskais.“ -

MEINUNG

Barbara Büchner schafft hier das Kunststück, mit den Mitteln eines Romantic Thrillers einen atmosphärischen Grusler „in lovecraftscher Tradition“ (Werbung) abzuliefern. Diese „lovecraftsche Tradition“ wird einerseits in den Themen des Romans deutlich – das unwirkliche „Innsmouth-Feeling“ der namenlosen Stadt und der spezielle fischartige Mischlingsschlag der Mersenbecks -, als auch erzählerisch durch den gewissenhaften Aufbau des Romans. Wie der Meister selbst, arbeitet Barbara Büchner mit Andeutungen und Gerüchten, die, jedes für sich, harmlos oder lächerlich erscheinen mögen, in ihrer Gesamtheit aber unzweifelhaft in eine bestimmte Richtung deuten. Dazu gesellt sich die durchgehend leise Ahnung einer unbestimmten Gefahr, in der sich Fiona befindet.
Zusätzlich modernisiert die Autorin jedoch souverän die Konventionen dieses speziellen Genres: Fiona Rothenstein gibt sich nicht – wie es dem Klischee entsprechen würde - mit der Opferrolle zufrieden. Im Gegenteil bringt sie selbst das schwächliche Halbwesen Maurice Mersenbeck in Bedrängnis, als sie ihm auf den Zahn fühlt und mit seiner Andersartigkeit konfrontiert und am Ende sogar eine Entscheidung fordert.
Trotz aller Lovecraft-Verbundenheit ist DIE WEIHNACHTSBRAUT so eigenständig und originell, dass keinerlei lovecraftsche „Vorkenntnisse“ erforderlich sind. Außerdem ist es ganz erholsam, in der aktuellen Horror-Landschaft mal wieder einen atmosphärischen Roman in die Hände zu bekommen, der ohne Blut und Folter auskommt.

Das geniale Covermotiv wurde von Mark Freier erstellt und fügt sich nahtlos in das Reihenlayout des Atelier Bonzai ein. Auch für den sauberen Satz und die beiden schwarz/weiß-Innenillustrationen zeichnet Mark Freier verantwortlich. Wie gewohnt ist das Paperback sehr gut gearbeitet und sieht auch nach dem Lesen noch aus wie neu.

FAZIT

DIE WEIHNACHTSBRAUT liest sich, als hätte Michael Siefener einen GASLICHT-Roman verfasst. Ein weiteres Highlight in Alisha Biondas Horror-Reihe „Scream“.