Blutopfer

Björn Kühlen - Buchwurn-Info

Dilaras Suche nach ihren eigenen Wurzeln findet durch ein Ereignis im London des Jahres 2005 eine neue Richtung: Im British Museum weckt eine Exhibition mit dem Thema Versunkenes Aztlan, die Urheimat der Azteken das Interesse der Vampirin. Eine dort ausgestellte Mumie verursacht eine gewisse Unruhe, aber auch Vertrautheit in Dilara, die sie sich anfänglich noch nicht erklären kann.

Langsam aber sicher kommen die Erinnerungen wieder an eine Expedition im Jahre 1891, die Dilara damals zusammen mit dem Archäologen Roger Gallet unternommen hat: Der charmante Abenteurer ist von der dunkelhaarigen Schönheit fasziniert und zeigt sich begeistert, als sie bereitwillig einer Forschungsreise nach Mexico zustimmt. Dies geschieht aber auch nicht ohne gewissen Eigennutz seitens der Schönen, denn sie teilt zwar Gallets brennendes Interesse an den Azteken, die wahren Beweggründe sind jedoch anderer Natur – sie fühlt sich in gewisser Weise zu diesem Volk hingezogen. Da das Reiseziel die sagenumwobene Stadt Aztlan sein soll, ergreift Dilara sofort die Gelegenheit, sich diesem Unternehmen anzuschließen. Die Reisegruppe zeigt sich im Endeffekt auch erfolgreich; tatsächlich finden sie die verborgene Urheimat der Azteken; dennoch endet das Unternehmen in einer Katastrophe.

Sie landen mitten in den Wirren eines brutalen Opferungsrituals, sie werden überwältigt und getrennt. Die verschiedenen Priester der einzelnen aztekischen Gottheiten stehen in einem gnadenlosen Clinch, der von zahlreichen Menschenopfern begleitet wird. In Strömen fließt das Blut – was unserer Vampirin nicht wirklich zuwider ist; auch die mordenden Priester in dieser fast schon unwirklichen Welt scheinen ihr vertraut, als würden sie zu ihrer Art gehören – dennoch fühlt sie sich emotional dazu verpflichtet, ihrem Begleiter Roger Gallet aus dieser Misere zu helfen und ihn vor dem sicheren Tod zu bewahren.

Interessanterweise möchte Unvaale, der Hohepriester der Gottheit Tonatiuh, die Blutsaugerin bei ihrem Unterfangen unterstützen. In seinem Interesse liegt es, die Göttin Coyolxa zu stürzen, die auch den Archäologen gefangen hält, und dabei den legendären Sonnenstein zu erbeuten, der die Wiedererweckung der Gottheit Tonatiuh ermöglichen soll. Mit Unvaales Hilfe schafft Dilara es in der Tat, in das Reich der Coyolxa einzudringen und wird mit dieser auch letztendlich konfrontiert.

Die Auseinandersetzung ist unausweichlich, Dilara greift zu einem riskanten Mittel, um Roger Gallet aus den Klauen der untoten Göttin zu befreien – doch auch eine riesengroße Überraschung wartet mit der Demaskierung des geheimnisvollen Unvaale auf die Vampirin ...

Während sich Dilara also stückchenweise an die Ereignisse im ausgehenden 19 Jahrhundert erinnert, kommt es auch im modernen London zu einigen Neuerungen. Noch immer wollen die Blutsaugerin und ihr Gefährte Calvin die Schattenchronik in ihre Hände bekommen, um endlich Licht in einige dunkle Nischen zu bringen. Als ideale Schlüsselperson scheint sich der noch immer sein Unwesen treibende Roderick alias John George Haigh, der Vampir von London, anzubieten. In der Tat fällt diese tragische Bestie ihrer tiefen Sehnsucht nach Dilara zum Opfer. Sie verführt den Liebestollen, während Calvin - nicht wirklich begeistert von dieser Methode - die Schattenchronik entwenden kann.
Fast schon zu einfach nach dem Geschmack des Vampir-Paares. Zu allem Überfluss stellt sich heraus, dass der Inhalt der Chronik in einer Art Verschlüsselung durcheinander geworfen wurde, somit nahezu unbrauchbar ist.

Neben dieser Errungenschaft tun sich auch einige neue Schwierigkeiten auf: Guardian, der bisher hilfreiche Anführer der Cemeteries, scheint seine eigenen Pläne verwirklichen zu wollen – sein spezielles Interesse an Dilara nimmt präzisere Züge an, schürrt aber auch das Missfallen Calvins. An die Fersen Rodericks/Johns hat sich dessen ehemaliger Freund Greg Lane geheftet, denn dieser begreift mittlerweile, dass ein direkter Zusammenhang zwischen dem Verschwinden seines Kumpels, der schwarzhaarigen Schönheit aus der Galerie des Apsley House und den abartigen Mordfällen in London besteht. Gregs neuer Kollege Mick Bondye ist ein seltsamer Zeitgenosse, der auch einiges mehr über diese Geschehnisse zu wissen scheint, als er offen zugibt. Sein besonderes Interesse gilt dem Brompton Cemetery. Somit finden sich auf diesem Friedhof einige undurchsichtige Personen ein, die Handlung spitzt sich langsam zu.

Während Dilaras Erinnerungen immer mehr und mehr von den Ereignissen in Aztlan eingenommen werden, steht auch eine endgültige Auseinandersetzung mit Antediluvian kurz bevor. Die Schicksale einiger weiterer Personen werden in diesen Tagen ebenfalls besiegelt ...


Mit dem vierten Band wird ein neuer Kunstgriff der Schattenchronik-Serie eingeführt – Alisha Bionda und Jörg Kleudgen widmen sich in Co-Arbeit dieser neuen Facette der Vampirin Dilara.

Während Alisha im London des Jahre 2005 verweilt und die aktuellen Ereignisse um den aufkeimenden Konflikt der Nosferati weiterverfolgt, reist Jörg mit uns in das 19. Jahrhundert in die geheimnisvolle Stadt Aztlan; zwischendrin wird auch noch ein kurzer Sprung in die Anfänge dieser Stadt um 1569 gewagt. Die Autoren haben einige tiefgreifende Recherchen u.a. zu den Azteken angestellt, denn die erwähnten Gottheiten und Rituale entsprechen in der Tat zum größten Teil den dokumentierten Fakten.

Die beiden Handlungsstränge um Aztlan und London laufen parallel ab, ohne den gemeinsamen Faden zu verlieren. Wie Dilara selbst wird der Leser schrittchenweise in die Vergangenheit entführt, er durchlebt die einzelne Zeitsprünge, viele Fragen werden endlich geklärt, dafür aber auch neue Fragen aufgeworfen, auf deren Antworten wir in den Folgebänden gespannt sein dürfen.

Im Ganzen ist diese Geschichte auch die bisher brutalste und blutigste Folge der Schattenchronik-Serie; selbst Dilara gibt hier einige fast schon beängstigende Charakterzüge zur Schau – im Angesicht ihrer Erinnerungen entwickelt sie eine hemmungslose Mordlust, die ihrem "normalen" Blutdurst nicht mehr wirklich entspricht. Einige uns bereits bekannte Charaktere bekommen eine zusätzliche Tiefe, während neue Personen in die Handlung eingeführt werden, wie z. B. der mysteriöse Cop Mick Bondye.

Vor allem das schicksalhafte Finale am Ende dieser aufregenden Horror-Symphonie endet mit einem mächtigen Paukenschlag, der leider dann auch so abrupt ist, dass man ohne den nächsten Band "Der Schattenkelch" (interessanterweise sollte dieser mal ursprünglich den Titel "Der Gralsorden" tragen, wie man der Vorschau entnehmen kann) so ziemlich in der Luft hängt. Dennoch sollte man aber vor der Lektüre des kompletten Buches nicht den Klappentext des Folgebandes lesen, sonst geht dem neugierigen Leser leider eine große Überraschung verloren, was allemal schade wäre ...

Natürlich haben auch auch Mark Freier und Pat Hachfeld wieder ihre meisterlichen Leistungen zu diesem Werk geliefert. Marks Titelbild, bedrohlich und beängstigend, absolut passend zum Flair der Handlung – als Thema dient hier die Vision Calvins von der blutgierigen Göttin des Mondes und ihren Anhängern vor einer Wand aus menschlichen Schädeln. Pat leitet wie gewohnt die Kapitel mit seinen düsteren Zeichnungen ein, mal erotisch (wie im ersten Kapitel), mal morbide oder symbolisch, das wichtige i-Tüpfelchen zum Gesamtbild.

Abschließend bleibt mir nur noch zu sagen, dass ich mich schon auf Band 5 freue, welchen ebenfalls dieses meisterliche Duo in gemeinsamer Arbeit verfasst hat. Mit Band 4 ist ihnen bereits etwas Grandioses gelungen ...