Björn Kühlen - Buchwurn-Info

Kuss der Verdammnis

Björn Kühlen - Buchwurn-Info

Band 2 knüpft genau an der Stelle an, wo die Kurzgeschichte 'Der ewig dunkle Traum' endete:

Die junge Dilara wird für den Mord an ihrem Geliebten Charles zum Tode durch den Strick verurteilt. Bald auch zieht sich die Schlinge an den berühmt-berüchtigten Tyburn Gallows im Londoner Hyde Park erbarmunglos um ihren hübschen Hals.
Im Angesicht ihres Todes jedoch taucht jene Person auf, die für diese ganze Misere die Schuld zu tragen scheint – der Ur-Vampir Antediluvian. Er bietet Dilara an, ihr das ewige Leben zu schenken und sie zu einem Nosferatu zu machen. Ihr bleibt letztendlich nur die Wahl, den Kuss der Verdammnis hinzunehmen und zu einer Vampirin zu werden.

Vierhundert Jahre später findet sich Dilara in London wieder. Hier geht sie ihrem steten Treiben als ungewöhnliche Vampirin nach – einer ihrer Lieblingsorte ist unter anderem die Galerie des Apsley Houses, dort fasziniert sie speziell das Gemälde eines unbekannten Malers, welches seinen Platz in einer dunklen Nische gefunden hat. Das Bild zeigt eine junge hübsche Dame, die Dilara zum Verwechseln ähnlich sieht – in Wahrheit stellt es auch die jetzige Vampirin im Jahre 1601 da, das Jahr ihrer Hinrichtung.

Doch nicht nur Dilara ist von dem Bild beeindruckt. Dem wohlhabende Roderick Herrington macht die verblüffende Ähnlichkeit der Schönen auf dem Gemälde mit dem Antlitz der geheimnisvollen Besucherin schwer zu schaffen. Er fühlt sich rettungslos zu der schwarzhaarigen Frau hingezogen, doch auch Dilara kann ein gewisses Interesse an dem Mann nicht verleumden.

In Rodericks Geist regt sich gleichzeitig eine seltsame innere Stimme, er schottet sich von der Außenwelt ab, wird von blutigen Vision heimgesucht – bis Realität und Wahn schließlich verschmelzen. Roderick mutiert zu einem modernen "Jack the Ripper", der in der Dunkelheit der Londoner Nächte mehrere Frauen buchstäblich abschlachtet und ihr Blut trinkt. In Roderick nistet unverkennbar ein düsteres Geheimnis aus der Vergangenheit, welches er aber noch nicht zu lösen vermag ...

Auch Dilara verfolgt mehrere Spuren, die einige Fragen zu ihrem früheren Leben beantworten könnten. Speziell eine Frage interessiert sie: Warum gibt es ein Bild von ihr in der geheimnisvollen Schattenchronik, die Antediluvian wie seinen Augapfel bewacht? Ihr Vertrauen in den Ur-Vampir wird mehr und mehr in Frage gestellt, bis sie zu der Überzeugung gelangt, dass ihr einstiger Mentor sich aus noch unbekannten Gründen ihrer entledigen will. Ab diesem Moment werden sie zu Gegnern.

Die Vampirin ist aber mittlerweile auf ihren wahren Gefährten gestoßen. Sie hat sich auf dem Portobello-Markt in den jungen Calvin verliebt, und auch er ist sofort der hübschen Schwarzhaarigen verfallen. Dilara gibt ihm schließlich den Kuss der Verdammnis, so dass sie sich auf ein ewiges gemeinsames Leben einlassen können. Ihr Beisammensein wandelt sich zu einer beispiellosen, tiefen Seelenverwandschaft. Gemeinsam wollen sie Antediluvians dunkle Machenschaften aufdecken ...

Alisha Bionda, die zu der Anthologie "Der ewig dunkle Traum" noch eine der Kurzgeschichten beigesteuert hatte, lebt in diesem Band das Dasein der Vampirin Dilara in unserer modernen Zeit. Ja, man gewinnt den Eindruck, sie lebt diese Figur in allen ihren Zügen.

Die Ambivalenz der Gefühle dieser Frau, ihre sprühende Erotik, ihre Zartheit, die verspielten Auseinandersetzungen mit ihrem Partner, aber auch ihre gnadenlose Gefährlichkeit werden so intensiv und wirklich dargestellt, dass man meint, Alisha sei Dilara oder umgekehrt. Besonders der sprühende Liebesreigen zwischen Calvin und Dilara wird mit einer beeindruckenden Tiefe und Dichte beschrieben.

Die Vampirin ist hin- und hergerissen zwischen zwei sehr unterschiedlichen Männern, dem ständigen Zweifel an ihrem eigenen Dasein und dem Leben als Blutsauger. Die Konfrontation mit den wahren düsteren Plänen ihres Mentors, die verzweifelte Suche nach ihrer Vergangenheit – das gesamte Geschehen findet vor dem Hintergrund des altehrwürdigen London statt.

Die einzelnen Örtlichkeiten in dieser legendären Stadt sind schaurig-romantisch gewählt, ideal für eine Vampirstory, auch wenn wir hier absolut keine gewöhnliche Nosferatu-Abhandlung in Händen halten. Diese Geschichte, welche auch eine erste genauere Einführung der Hauptcharaktere der Schattenchronik-Serie liefert, kann man fast schon als eine Gothic-Romanze bezeichnen.

Schon alleine die Hauptfigur lässt sich mit keinem bekannten Vampircharakter vergleichen – auch am Tage ist sie unterwegs, gibt sich den verschiedensten Reizen hin, lebt und liebt wie eine junge Frau – wenn dann auch in der Nacht gelegentlich die morbide Gier aus ihr herausbricht und dieses faszinierende Wesen zu einer gnadenlosen Bestie mutiert, der es nach frischem Blut gelüstet. Interessanterweise nimmt der Leser diesen Blutrausch meistens billigend hin, er akzeptiert diese Opfer als nötige Übel, nimmt diesen 'grausamen' Wesenszug als gegeben hin und verurteilt ihn nach einer Weile auch nicht mehr.

Dies ist aber auch erst der Anfang, die Einführung in eine neue Welt, denn diese Erzählung schließt mit einem offenen Ende – was unsere Vampirin in der Unterwelt Londons erlebt, welches düstere Geheimnis in der Schattenchronik von Antediluvian verborgen gehalten wird und was Dilara während ihrer bereits 400 Jahre schon alles widerfahren ist, das werden wir wohl in den kommenden Bänden erfahren.

Kommen wir noch zu Pat Hachfeld: Sein Zeichenstil hat schon in dem ersten Band die richtige Stimmung vermittelt. Hier packt er die Figuren in äußerst düstere Umgebungen (sei es in eine dunkle Londoner Straße oder in eine schummerige Katakombe darunter); vereinzelt mit nur kleinen Lichtquellen ausgeleuchtet, leiten diese Illustrationen die einzelnen Kapitel ein, welche passend mit lateinischen Titeln versehen sind (carpe diem, carpe noctem etc.).
Um den Rahmen zu vervollständigen, hat Mark Freier ein Titelbild im wahren Gothic-Stil zum Besten gegeben, körnig verwaschen in kältesten Farben – ist das vielleicht das Gemälde aus dem Apsley House?!

Der Einstieg in die Welt der Schattenchronik ist jedenfalls gelungen ...