Elmar Huber - www.literra.info

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„ ... das prasselnde Geräusch der Tropfen, wie sie an das blinde Fenster klopften, schärfte seine Sinne. Firm fiel auf, wie still es im Haus geworden war. Zumeist verhielten sich die Kinder von Maggie ruhig, wussten sie doch, was ihnen blühte, wenn sie einen Aufstand begingen, dennoch brach hin und wieder ein Zank aus, Murmeln kullerten über den Boden, jemand fiel hin, oder die Größeren unter ihnen kamen von ihren Beutezügen wieder. Aber heute war es nicht so. Es war still. Viel zu still.“
(MARC-ALASTOR E.-E. - Unter dunklen Schwingen - gehen Wunder ihren Gang)

Bereits drei Monate nach ihrem doppelten DARK LADIES-Streich und einen Monat nach den SCHATTENVERSUCHUNGEN präsentiert uns Alisha Bionda ihre neue Anthologie UNTER DUNKLEN SCHWINGEN. Diesmal galt es nicht, eine ungewöhnliche Idee umzusetzen oder sich einem Thema zu beugen. Die AutorInnen hatten völlig freie Hand, was Wahl und Ausführung ihres Stoffes anging. Lediglich das Motiv der dunklen Schwingen findet sich, mal mehr und mal weniger wichtig für die Handlung, in jedem Beitrag wieder.

ANDREAS GRUBER - Unter dunklen Schwingen – nimmt der Wahnsinn seinen Lauf
Überraschend trifft Gerald seinen alten Freund Konrad aus Schultagen wieder. Schon damals als Sonderling abgestempelt, war Gerald der einzige, der sich mit Konrad abgab. Heute ist Konrad eine gescheiterte Existenz. Aus einem unbestimmten Verantwortungsgefühl heraus macht Gerald seinem alten Kamerad ein Weihnachtsgeschenk mit unabsehbaren Folgen.

Andreas Grubers Anthologiebeiträge sind für Herausgeber stets eine sichere Bank. Auch WAHNSINN besticht durch gute, nachvollziehbare Konzeption (wer hatte damals nicht einen Sonderling auf der Schule?) und saubere Ausführung. Gruber versteht es, den Leser sofort in seine Geschichten zu ziehen. Um so unmittelbarer kommt der Wahnsinn gekrochen.

USCHI ZIETSCH - Unter Dunklen Schwingen - wächst manch Aberglaube
Alle 12 Jahre findet der Flug des Adlergottes statt, der für einen weiteren Zyklus über das Schicksal seines Volkes bestimmt. Das abnorm weißhäutige, mit Flaum bedeckte Kind, das einige Jahre zuvor geboren wurde soll die Entscheidung des Gottes durch seine Missgesatlt nicht zum negativen beeinflussen. Der Entschluß wird gefasst das Kind am Morgen des kommenden Fluges zu töten.

ABERGLAUBE funktioniert sehr gut als Parabel im Fantasy-Gewand mit unübersehbar christlichen Einflüssen. Aus der Adlerpersektive erzählt Uschi Zietsch wie ein friedliches Volk durch Aberglaube und (genährten) Fanatismus zu einem gnadenlosen Mob wird. Die Konsequenz des Adlergottes überrascht, da dieser eben nicht mit gleicher Münze heimzahlt.

AINO LAOS - Unter dunklen Schwingen - gesteht ein jeder seine Schuld
Erschöpft und hungrig von ihrer Wanderung kehrt die kleine Gruppe ins Black Wings Inn ein. Sie bewundern den Wasserspeier, der den Eingang zum Pub ziert und verbannen die Inschrift, nach der ein Mörder den Pub nur lebend verlassen kann, wenn er seine Taten gesteht, ins Reich der Legenden. Zu Unrecht.

SCHULD entwickelt sich für meinen Geschmack zu schnell und zu widerstandslos. Die Akzeptanz der Situation durch die Eingeschlossenen erfolgt zu bereitwillig, die Figuren bleiben fremd, so dass kein Mitgefühl aufkommen will. Vielleicht hätten noch einige Szenen, die die Personen dem Leser sympathischer machen, geholfen.
Die Grundidee und das Ende, die direkt aus einer Episode der Twilight Zone stammen könnten, haben mir dagegen sehr gut gefallen.

MARC-ALASTOR E.-E. - Unter dunklen Schwingen - gehen Wunder ihren Gang
Ein Kindermörder geht um in den Gassen Londons. Gerüchte sind im Umlauf von einem wandelnden Portal, dass die Kinder verschlingt. Der kleinwüchsige Firm findet unfreiwillig dieses Portal, das trübe Erinnerungen in ihm weckt. Doch Firm stirbt nicht. In einem einsamen Zimmer kommt er wieder zu Kräften während sich vor seiner Zimmertür Seltsames ereignet und jenseitige Mächte ihm etwas mitzuteilen haben.

In Unwissenheit über sein eigenes Schicksal leidet der kleine Firm in WUNDER unter Vorgängen, die er nicht erfassen kann und. Eindringlich vermittelt Marc-Alastor E.-E. Firms Wechselbad aus Hilflosigkeit, Angst, Neugier und Abscheu, das sich nach seiner Genesung in Entschlossenheit wandelt, um etwas Gutes zu schaffen. Stilistisch benutzt der Autor hier übertriebene Gestik und Mimik seiner Figuren, so dass sich der Leser als Zuschauer eines expressionistischen Films wähnt. Eine effektive und passende Form für dieses düstere Märchen zwischen Dickens und Poe.

DOMINIK IRTENKAUF - Unter dunklen Schwingen – kauert Gottes Kind
Nach dem Tod ihrer Mutter wird Marie ihrem bescheiden lebenden Onkel zur Pflege übergeben. In den Nächten hört dieser ein Wimmern und Lästern von ihrer Schlafstadt ausgehen und Marie verliert nach und nach ihre Zähne. Ihr Onkel leidet darunter, ihr nicht helfen zu können. Die Zeit vergeht. Marie wird zur Frau, ihr Onkel alt und schwach und in der Umgebung der Hütte geschehen blutige Morde.

In einigen Passagen von GOTTES KIND wähnte ich mich in einer Werwolfgeschichte, dann wieder in einem Inzestdrama oder einer Allegorie übers Frauwerden (wie etwa Neil Jordans ZEIT DER WÖLFE). Der Autor benutzt einige Zutaten des Phantastischen um den Leser zu locken. Kurze Szenen, die zwar scheinbar ein gemeinsames Ziel haben aber doch nicht recht in einen logischen Zusammenhang zu bringen sind, geschweige denn erklärt werden Auf jeden Fall birgt GOTTES KIND Interpretationspotential. Mein Tipp zur Lektüre: Einfach von der surrealen Atmosphäre treiben lassen.

MARK FREIER - Unter dunklen Schwingen – ist kein rechter Bund zu schließen
Ein Abenteurer erfährt auf einer Reise vom bevorstehenden Tod seiner Mutter. Dies und eine Entführung, deren Opfer er wird, bescheren ihm einen seltsamen Traum. Die Gestalt mit den dunklen Schwingen, die ihm im dort erscheint, erinnert ihn an ein verdrängtes Erlebnis aus seiner Kindheit. Seine Mutter schloß einst einen Vertrag mit dem Geflügelten.

Mark Freier beweist mit BUND, dass er nicht nur preiswürdige Grafiken erstellen, sondern auch schreiben kann. Obwohl er zu den Schreibanfängern gezählt werden muss, gelingt es ihm hier, Realität und Traum gut zu verbinden und eine Stimmung zu erzeugen, die an so manchen Klassiker erinnert.

CHRISTOPH HARDEBUSCH - Unter dunklen Schwingen - geht der Tod auf die Jagd
Ihre Clubbekanntschaft wollte sie unbedingt auf einen Friedhof wieder treffen. Von ihr aus gerne. Ihr konnte nichts geschehen, war sie doch eine dunkle Göttin, der ihre Anhänger bereits vor Äonen huldigten.

Nach Christoph Hardebuschs genialer Fantasy-Utopie TAG & NACHT in DARK LADIES I, kommt JAGD reichlich blass des Wegs. Ein schöner urbaner Beginn mündet in einen Vampir-Klischee-Schnellschuss. Der finale (Doppel)Twist wirkt aufgesetzt und bleibt wirkunglos, da beide Personen nicht nahe gehen.

BARBARA BÜCHNER - Unter dunklen Schwingen - zieht dich die Blutgräfin in ihren Bann
Jan tritt eine neue Stelle als Bibliothekar auf dem Schloss seines Freundes Markus von Weldern an. Gemeinsam mit seiner Freundin möchte er die Zeit auf dem historischen Gemäuer genießen. Ein alter Familienfluch trübt die Unbeschwertheit und die Ankunft eines Parapsychlogen, der den Fluch brechen soll, sorgt endgültig für Verstimmung.

Barbara Büchner behält lange Zeit die Richtung bei, die der fast klassische Beginn vorgibt. Doch schon das Arbeitsgerät des Parapsychologen lässt an der Ernsthaftigkeit der Geschichte zweifeln. Und tatsächlich entwickelt sich die von der Legende um Erzsebet Bathory inspirierte BLUTGRÄFIN letztendlich zu einer wilden Melange, die Ed Wood Ehre machen würde. Dabei nimmt die Autorin doch alle Aspekte und Figuren ihrer Story zu jeder Zeit ernst und driftet nicht in literarischen Slapstick ab.

ARCANA MOON - Unter dunklen Schwingen - entscheidet der Feuerengel über die Geschicke der Welt
Mit Ludinions Hilfe befreit sich Darina aus der Anstalt, in der sie festgehalten wird. Plötzlich findet die sich zusammen mit ihrem Befreier in einem unbestimmten Schlachtengetümmel wieder. Am Ende steht der Feuerengel vor einer, sich stets wiederholenden, Entscheidung.

Zunächst gemächlich und mit leisen Tönen versehen, nimmt FEUERENGEL schon bald Tempo auf und schleudert den Leser gemeinsam mit Darina in die Unruhen einer Schlacht, die sich auf überraschende Weise als schicksalsträchtig für die Zukunft der Welt entscheidet. Etwas verwirrend aber rasant, selbstsicher und formal außergewöhnlich. Für eine Schreibanfängerin bemerkenswert

TANYA CARPENTER & MARK STAATS - Unter dunklen Schwingen – zerbricht die Unsterblichkeit
Durch grundlose Eifersucht getrieben erschlägt Ruthven seine Frau und wird draufhin verflucht, als Vampir weiter zu existieren. In jeder Epoche trifft er seine Frau wieder, die er jedoch erst in dem Moment erkennt, in dem er sie tötet oder sie ihm genommen wird.

Die Geschichte besteht aus Ruthvens Erinnerungen an verschiedene Zeiten und an die verschiedenen Inkarnationen seiner Geliebten. Mit wenigen Sätzen lassen die Autoren die jeweilige Ära lebendig werden und variieren geschickt immer wieder Ruthvens Verlust. Mit wenigen Mitteln wird hier die größtmögliche Wirkung erzielt. Atmosphärisch dicht und äußerst stimmungsvoll.

ALISHA BIONDA - Unter dunklen Schwingen – trifft dich Ischariots Kuss
Gemeinsam mit einigen Getreuen webt Judas Ischariot seit seinem Verrat ein dunkles Netz, das die Menschen umschlingt. Moralischer und sozialer Zerfall sind die Folge. Plötzlich droht seinen Plänen Gefahr in Gestalt des jungen Israel, der die Fähigkeit hat, sich auf sanfte Weise Gehör zu verschaffen und dessen Worte wieder Hoffnung in den Menschen wecken.

Beginnend mit einer unheiligen Perversion des letzten Abendmahls breitet Alisha Bionda eine Geschichte aus, die das Aufeinandertreffen von Jesus und Judas in der heutigen Zeit zum Thema hat. Judas Ischariot spinnt schon seit seinem Verrat sein dunkles Netz über die Menschen, Israel ist die Jesusfigur, die durch ihr Auftauchen Judas Pläne durchkreuzt. Dabei wirkt es, als müsste sich Israel erst wiederwillig in seine Bestimmung hineinfinden. Die Autorin zeigt uns das Geschehen aus drei verschiedenen Blickwinkeln, wobei es ihr gelingt, für jede Person eine typische Sprache zu finden. Durch das Spiel mit bekannten religiösen Motiven glaubt man, die Entwicklung von ISCHARIOTS KUSS voraussagen zu können. Doch Alisha Bionda überrascht durch ungewöhnliche Entwicklungen, überraschende Wendungen und freien Umgang mit den Figuren.

In ihrem Vorwort bricht Herausgeberin Alisha Bionda eine Lanze für Kurzgeschichten und Anthologien und spricht mir damit aus der Seele. Für AutorInnen ist die Kurzgeschichte doch die geeignete Form, etwas zu probieren, Wagnisse einzugehen und aus gängigen Mustern auszubrechen ohne bleibenden Schaden anzurichten. Außerdem müssen sich AutorInnen in dieser Form zwangsläufig auf das Wesentliche konzentrieren, was der speziell phantastischen Kurzgeschichte stets zugute kommt. Für diese Geschichtengattung werden keine riesigen Figurenkonstellationen benötigt. Zeitliche Dehnungen über Jahre oder gar Äonen sind nicht notwendig und auch langlebige Verflechtungen der Personen untereinander benötigt man nicht (gelungene Ausnahmen gibt es natürlich). Horror hat Platz auf kleinstem Raum. Ein Einpersonenstück, das in einer dunklen Kammer spielt, reicht vollkommen aus, dem Leser eine Ahnung tiefster Beklommenheit zu vermitteln (siehe z.B. Poes GRUBE UND PENDEL).

UNTER DUNKELN SCHWINGEN verfügt über die fast schon typische Mischung einer Alisha Bionda-Anthologie. Wie selbstverständlich stellt sie versierte Autoren interessanten Newcomern an die Seite. Dabei spricht für die Herausgeberin, dass sie es wagt, diese Gehversuche (SCHULD, BUND und FEUERENGEL) einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und, auch wenn nicht alle diese Beiträge zünden, die jungen AutorInnen nicht vertröstet und nochmal ins Trainingslager schickt.
Geblieben sind auch Beiträge, die sich konsequent einer gängigen Typisierung entziehen und eher märchenhafter Natur sind (WUNDER, GOTTES KIND und FEUERENGEL), auch wenn diese Märchen mit teils brachialen Mitteln erzählt werden. Für Leser, die auf eine unbedingt logische Auflösung verzichten können und in der Lage sind, sich einfach von der Stimmung einer Geschichte (oder besser: auf dunklen Schwingen) tragen zu lassen, sind Marc-Alastor E.-E.s und Dominik Irtenkaufs so geartete Beiträge unbedingt zu empfehlen. Beides eher ausladende, düstere Gemälde als nüchtern durchkonzipierte Reissbrettzeichungen.

Freunden des eher bodenständigen (aber deswegen nicht weniger wirkungsvollen) Grusels kommen bestimmt die Beiträge von Andreas Gruber, der sich aufgrund seiner Verlässlichkeit inzwischen zu einer festen Phantastik-Größe entwickelt hat, das tragisch-romatische Carpenter/Staats-Duett und Aino Laos überraschende Anekdote aus dem Black Wings Inn gelegen. Nachdenkenswerte Beiträge, da sich Teile davon gut in die wirkliche Welt übertragen lassen, liefern Uschi Zietsch und Alisha Bionda selbst.

Zusätzlich zum Titelbild hat der Grafiker Mark Freier zu jeder Story eine Grafik erstellt, die je eine Szene aus der Geschichte wiedergibt und so diesen Gesichter verleiht. Zusammen mit den liebevollen Szenetrennern (kleine Fledermäuse) und natürlich den Stories selbst, ergibt sich ein kompaktes Gesamtbild, das trotz der Unterschiedlichkeit der Beiträge überzeugen kann.