Wellensang

Peter Schünemann - SOLAR X

Alisha Bionda & Michael Borlik (Hrsg.): Wellensang
(Schreiblust-Verlag Andreas Schröter)

Gäbe es Kleinverlage nicht, wären Bücher mit deutschen Fantasy-Kurzgeschichten wohl fast ausgestorben. Ab und zu legt ein großes Haus eins auf, dann jedoch meist thematisch orientiert (wie "Das Vermächtnis des Rings", Bastei 2001, das auf der Tolkien-Welle schwamm). Ansonsten ist der überlebende Shortstory-Großmarkt fest in angloamerikanischer Hand, und auch da muss in der Regel mindestens ein großer Name das Cover zieren (siehe "Marion Zimmer Bradleys Neues Fantasy-Magazin", Heyne 2002). Ausnahmen wie einige Bücher in der Phantastischen Bibliothek von Suhrkamp bestätigen die Regel, aber in diesen wiederum wird man Fantasy eher selten finden.

Ein Grund für all dies mag sein, dass Leser offenbar nicht allzu gern Fantasy-Kurzgeschichten konsumieren, vielleicht weil in diesem Genre von vornherein breit angelegte Romane die Oberhand hatten - anders als im Fall von SF und Horror, wo Shortstories auf eine lange Tradition zurückblicken können; ohne Magazine wie Amazing Stories, Astounding oder Weird Tales hätten diese beiden Genres ein unscheinbareres Gesicht. Und in Weird Tales erschien mitunter auch Fantasy, zum Beispiel Robert E. Howards Conan-Erzählungen (die aber eher Kurzromane sind). Doch in Deutschland existiert selbst für solche Unternehmungen keine Tradition - Magazine verkaufen sich hierzulande schlecht, das musste zum Beispiel Heyne feststellen, dessen Science Fiction Magazin das erste Dutzend Nummern nicht lange überlebte). So bleiben für Fantasy-Stories nur das Fanzine und die Small Press.

Um so schätzenswerter ist es, wenn kleine Häuser wie der in Dortmund beheimatete Schreiblust-Verlag sich auf das marktwirtschaftlich dünne Eis einer solchen Edition wagen - hier mit "Wellensang", einer Sammlung, die 2004 ihre erste Auflage erlebte.

Herausgeberin Alisha Bionda sagt dazu in ihrem Vorwort, sie habe einer Gruppe "moderner Märchenerzähler" zu einem Buch verhelfen wollen, die "in ihren Geschichten weniger Wert auf grausame Racheschwüre oder lange und langweilige Gemetzel legten"; und Michael Borlik betont, das Ganze sollte "nicht im Einheitsbrei der Masse untergehen".

19 AutorInnen der Jahrgänge 1950 bis 1981 kommen in dieser Anthologie zu Wort und versuchen, besagten Brei zu vermeiden. Einige der Namen sind dem Dauerkonsumenten von SF&F&H bestens vertraut - Christel Scheja, Irene Salzmann, Eddie M. Angerhuber, Armin Rößler oder Frank W. Haubold kennt man schon lange und weiß ihr Talent zu schätzen. Andere, wie Andrea Tillmanns und Barbara Büchner, gehören ebenfalls zu den Schreibern, die man im eigenen Bücherschrank schnell findet, so man nicht nur Großverlagsbücher konsumiert. Dritte Namen hatte ich noch nie gehört, aber genau darin besteht ja auch der Sinn einer solchen Edition: neue Talente den Lesern nahezubringen. Die Mischung jedenfalls verspricht ein vergnügliches Leseerlebnis - und hält dieses Versprechen. Nicht alles ist bis ins letzte Detail ausgereift und professionell geschrieben, aber welcher Autor kann das schon von sich behaupten? Der frühe Lovecraft hätte mit Texten wie "Das Weiße Schiff" oder "Polaris" in eine solche Sammlung bestens hineingepasst ...

Was hat mir besonders gefallen?

Christel Schejas "Das Lied der Krähe"; der Text eröffnet die Anthologie mit einer Hommage an die keltischen Mythen; dicht, nicht ausgewalzt, gekonnt erzählt.
Barbara Büchner, die in "La Belle et la Bete" eine humorvolle Variante des alten Märchens gibt, zählt gleichfalls zu meinen Favoriten.
Eddie M. Angerhuber demonstriert in "Zwischen 9 und 9" ihre Vorliebe für den phantastischen Film - die Vincent Price und Johnny Depp gewidmete Geschichte erzählt von einem jungen Mann, welcher in einem einsamen Schloss isoliert aufwächst und langsam beginnt, sich selbst zu erfahren; der Text wirkt wie eine "Rache für Edward Scissorhands!"-Geschichte.
Doch auch Linda Budinger, Autorin der Titelstory, oder Ines Haberkorn, die in "Heimkehr nach Kalipay" ein merkwürdiges Gesellschaftssystem beschreibt, verstehen zu fesseln.
Frank W. Haubold wiederum nutzt Figuren, die schon in seiner Geschichte "Die Rakete" ("Das Geschenk der Nacht", EDFC) eine Rolle spielen; auch hier, in "Die gläserne Stadt", scheint der Autor den Tod eines Kindheitsfreundes literarisch zu verarbeiten, und wie immer, wenn er persönlich betroffen ist, ist Haubold gut. -
Arthur Gordon Wolf schließlich erzählt in "Von Zähnen, Sternen und Feen" über einen Jungen, dessen Mutter an einer merkwürdigen Krankheit leidet. Der Text hat nur wenige Seiten, doch Wolf gelingt es, nicht nur die schwierige Situation des Kindes lebendig darzustellen, sondern auch einen überraschenden und gruseligen Schlusspunkt zu setzen.

Abgeschlossen wird der Band recht ungewöhnlich: Stefanie Bense gibt mit "Fantasy im Dickicht der Definitionen" einen sekundärliterarischen Überblick über die verschiedenen Subgenres und versucht das Genre selbst von anderen abzugrenzen. Trotz des relativ geringen Platzes gelingt dies recht gut; informativ ist der Artikel vor allem deshalb, weil er auf neue Entwicklungen eingeht.

Insgesamt ist "Wellensang" also mit vollem Recht erschienen: Die Anthologie hat Besonderes zu sagen, sie geht nicht im "Einheitsbrei" unter, sie bietet talentierten Autoren eine Plattform, und das Lesen macht Spaß. Man kann den Herausgebern sowie Verlagschef Andreas Schröter nur wünschen, das ambitionierte Projekt möge viele Leser finden.

Wellensang, © vermutlich bei den Autoren, Schreiblust-Verlag Andreas Schröter, Dortmund 2004, 253 Seiten, 9,90 Euro
ISBN 3980827828