Elmar Huber - www.phantastik-couch.de

Der erfreuliche Besuch eines alten Bekannten

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… als ich mit einem Teller Käse, Schinken und Spiegeleier zurückkehrte, starrte er aus dem Fenster auf jenen trüben Novembertag, während er immer wieder murmelnd die Worte von jenem Schreiben wiederholte:„Die Realität ist relativ – Eine Demonstration von Wales Maschine … Watson, das sehen wir uns an!“
(Andreas Gruber: Glauben Sie mir, mein Name ist Dr. Watson!)
Obwohl „Das Geheimnis des Geigers“ keine wirkliche Phantastikveröffentlichung ist, möchten wir das Buch doch hier vorstellen, da viele Original-Holmessche Fälle trotz starker Realitätsverwurzelung den Bereich der Phantastik oder zumindest des Mysterygenres streifen eine Reihe der teilnehmenden Autoren in erster Linie als Phantastikautoren bekannt sind und einige enthaltene Geschichten eben doch Phantastikgeschichten sind.
„Das Renardi-Komplott“ schildert John Watsons Vorbereitungen, um Sherlock Holmes eine gebührende Geburtstagsüberraschung zu bereiten. Für die Idee verdient Christian von Aster 100%. Er schafft es, dass sich Irene Adler, Inspektor Lestrade und sogar Professor Moriaty mit John Watson verbünden, um Sherlock Holmes die Überraschung seines Lebens zu bescheren. Leider schafft er es nicht, das Potential dieser Ausgangssituation voll auszuschöpfen. Watsons Vorbereitungen bleiben für den Leser größtenteils vage Andeutungen. Gerade hier hätte Christian von Aster seiner humoristischen Ader freien Lauf lassen und Sherlock Holmes einmal gegen den immer in seinem Schatten stehenden Watson intellektuell antreten lassen können.

Ein gehenkter Leichnam wird in einem Lagerhaus bei den Docks gefunden. Bald ist ein Verdächtiger festgenommen, der jedoch seine Unschuld beteuert. Und auch Sherlock Holmes glaubt an die Unschuld des Mannes. Doch wer hat den Toten dann ermordet?
Die Figuren und die Stimmung sind gut getroffen. Allerdings ist der Fall an sich zu unspektakulär, um den Leser mitzureißen. Unterm Strich hat „Der Henker“ höchstens das Zeug zu einer Fußnote in der Zusammenarbeit von Holmes und Watson. Etwas mehr Mut seitens des Autors hätte hier gut getan.

Die öffentliche Vorführung einer neuartigen Erfindung mündet in einen tragischer Unfall mit zunächst unabsehbaren Folgen. Bei dem Experiment anwesende Personen scheinen sich nicht an ihre Vergangenheit erinnern zu können. Gleichzeitig erhält Sherlock Holmes geheimnisvolle Nachrichten, die scheinbar schon jahrelang unberührt in seiner Wohnung auf ihn warten. Arthur Conan Doyle meets H.G. Wells. Mit „Glauben Sie mir, mein Name ist Dr. Watson!“ schreibt Routinier Andreas Gruber die erste wirklich phantastische Geschichte dieser Sammlung und greift dabei gleich in die Vollen. Neben prominenten Personen, wie Jack London, Ambrose Bierce und Charles Dickens läßt er auch gleich deren Romanfiguren in seiner Geschichte auferstehen. Das große Thema ist – obwohl nie ausdrücklich darauf hingewiesen wird – tatsächlich der Wechsel von realen Personen in die Fantasiewelt der Literatur und umgekehrt. Beim Versuch, hier logische oder wenigstens mögliche Schlüsse zu ziehen, wird der Leser permanent gefordert. Und das in einer kurzweiligen, sauberen Sprache, die keine Längen aufkommen lässt. Andreas Gruber erweist sich als versierter Autor, der seine Geschichte und Figuren gut im Griff hat. Kompliment. Übrigens wird hier auch das rätselhafte Verschwinden des Autors Ambrose Bierce thematisiert, das immer wieder Autoren und Filmemacher anregt (siehe Markus Korbs „Insel des Todes“ und „From Dusk till Dawn 3 – The Hangman’s Daughter“).

Einmal mehr sieht sich Dr. Watson mit der Lethargie Sherlock Holmes konfrontiert, die der geistige Stillstand mit sich bringt. Doch plötzlich scheint Holmes eine neue Aufgabe zu haben, in die er seinen Freund Dr. Watson nicht einweihen möchte. Hermann Agis „Der Vorfall“ wird die Sherlock Holmes-Hardliner sicherlich verstören und zu Protesten hinreißen. Der anfänglich scheinbar wohlbekannte Holmes (und auch Watson selbst) wird im Lauf der Geschichte immer befremdlicher und am Ende ist Holmes selbst in Persona in Frage gestellt. Vieles wird hier angedeutet, aber nichts bekräftigt oder zu Ende geführt. Ich persönlich möchte die Geschichte nicht verurteilen und als Experiment stehen lassen. Hermann Agis bezieht sich hier neben den Doyle-Originalen auf Nicholas Bakers Roman „Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud“.

„Der schwarze Joe“, einer der Baker Street Irregulars, jener Bande von Staßenjungen, die ab und an Aufträge für Holmes ausführen, wird von seinen Freunden vermisst. Deren Anführer Wiggins bitte Holmes um dessen Hilfe. Ein schöner Fall, der auch von Conan Doyle selbst stammen könnte. Der Ton der Originale ist äußert gut getroffen und die Einbindung der Baker Street Irregulars, quasi als Auftraggeber von Holmes, ist eine schöne Remineszenz. Auch die Auflösung des Falles wirkt nicht überstürzt oder aufgesetzt.

Holmes wird durch den bevorstehenden Auftritt seines Lieblingsgeigers in London aus seiner zeitweisen Passivität befreit. Doch während des Auftritts bricht dieser zusammen und sieht sich nicht in der Lage zu spielen. Nach einigen weiteren Beobachtung ist Holmes sicher, das einmal mehr ein Verbrechen aufzuklären ist. „Das Geheimnis des Geigers“ ist ebenfalls eine gelungene, wenn auch sehr kurze, Geschichte, die Conan Doyle und dessen Figuren treu bleibt.

Ein Freund Dr. Watsons bittet den Meisterdetektiv um Hilfe, steht er doch im Verdacht, seinen eigenen Bruder ermordet zu haben. Nur aufgrund einiger Ungereimtheiten wurde noch keine Verhaftung durchgeführt. In „Der Tote von Belgrave Manor“ ist einmal nicht Dr. Watson der Erzähler, sondern ein Mann, der als junger Sanitäter diesen in Indien kennengelernt hat und sich nun – im Angesicht eines rätselhaften Todesfalls – an Watsons Mitbewohner Sherlock Holmes erinnert. Ansonsten liest sich die Geschichte wie ein Originalabenteuer. Der Besuch des Klienten in der Baker Street, die Besichtigung des Tatortes in Gegenwart der örtlichen Polizei, Holmes Schlussfolgerungen aufgrund der Familienvergangenheit. Alles sehr stimmig und gelungen.

Sherlock Holmes misst dem Drohbrief, der eines Morgens in der Baker Street 221b ankommt, keinerlei Bedeutung bei. Nach einem Gasanschlag auf offener Straße scheint sich seine Meinung zu ändern. Dennoch läßt er – trotz der Ankündigung eines Besuchers – Watson alleine in der gemeinsamen Wohnung zurück. Dominik Irtenkaufs „Abenteuer um den Tintenkleks“ versucht Holmes und Watson aus ihrer literarischen Welt herauszuholen und die beiden als komplexe Menschen darzustellen. Holmes selbst klagt seinen Freund an, ihn in seinen Berichten als gefühlskalte Deduktionsmaschine darzustellen. Gekleidet ist das Ganze in einige Pseudoabenteuerfetzen, die nicht recht zusammen passen wollen. Insgesamt eine Story, die mich eher verwirrt als unterhalten hat.

Ein grausiger Todesfall in einer Bäckerei in der Baker Street. In der Backstube ist die Besitzerin der Bäckerei bis auf Unterschenkel und Füße vollständig verbrannt. Markus Kastenholz läßt die Figuren in einem scheinbar typischen Holmes-Fall agieren. Dennoch verpufft „Die brennende Leiche“ am Ende wirkungs- und belanglos. Warum das Ganze als Brief John Watsons an einen ehemaligen Kriegskameraden verpackt ist, vermochte sich mir nicht zu erschließen.

Ein neuer Klient schockiert Holmes und Watson mit der Geschichte seines Ehebruchs mit einer angeblich Toten. Der Name des Mädchens treibt Holmes schließlich tatsächlich zu beinahe überstürzter Eile an. Stephan Peters, dem Enfant Terrible der deutschen Phantastik, gelingt mit „Ein Fall von Nekrophilie“ eine äußerst stilsichere Geschichte. In gewohnt lakonischer Weise rührt an an Tabuthemen. Wer also damit leben kann, dass auch Holmes durch Gefühle gezeichnet ist und wer die Möglichkeiten der Nekromantik in der holmesschen Welt akzeptiert, wird an dieser düsteren Geschichte seine helle Freude haben.

Ein Kollege des Ägyptologen Goodfellow Carruthers wird tot in seinem abgeschlossenen Büro aufgefunden. Aufgrund der Haltung, wie die Leiche entdeckt wurde, geht Scotland Yard von einem Selbstmord aus. Carruthers aber glaubt an einen Mord und bittet Sherlock Holmes um Hilfe. Das vielversprechende „Locked-Room-Mystery“ wird leider wirkungslos verheizt. Die Auflösung kommt viel zu schnell und der Titel der Geschichte legt ebenfalls schon die Auflösung nahe. „Der ägyptische Gnom“ erweist sich damit als verzichtbarer Beitrag.

Das Dienstädchen im Hause Rathfarnham meint, den Hausherren im trauten Gespräch mit der kürzlich verstorbene Hausherrin gesehen zu haben und bittet Sherlock Holmes um seine Hilfe. Dieser beauftragt wiederum einige Jungen mit der Beschattung des Anwesens. Einer der von Holmes gerne für Botengänge oder Beschattungen eingesetzen Jungen erzählt den „Fall, den Sherlock Holmes nicht lösen konnte“. Treffend gibt Christian Schönwetter die Behausung und das Naturell des Meisterdetektivs durch die Augen des zunächst eingeschücherten Jungen wieder. Der Kriminalfall verliert dagegen, wird nebensächlich und ist an sich nicht weiter spektakulär.

Der Sewer-Wärter wird tot, verbrannt und begraben von den Trümmern seines Wärterhäuschens, aufgefunden. Lestrade glaubt an Mord, kann dies aber nicht beweisen, was ihn zu Sherlock Holmes führt. Durch ein Experiment kann Holmes bestätigen, dass der sogar schon vor dem Brand des Wärterhäuschens nicht mehr am Leben war. „Der Tote vom Sewer“ ist äußerst gut gelungen. Der Fall dient eher als Aufhänger für Holmes' Maskeraden und Experimente, die oftmals zur Auflösung seiner Fälle beitragen. Leider bricht die Geschichte mitten im Fluss ab, was der Autor aber augenzwinkernd erklärt. Klaus-Peter Walter erweist sich bereits mit dieser Kurzgeschichte als Autor, der allerlei Anleihen bei Buch und Film nimmt und diese in seinen Geschichten verarbeitet (hier: „Dracula“, „Der Werwolf von London“ und der Rat an Lestrade, die „Frau zu suchen“). Leider bleibt davon einiges in der Luft hängen, was aber bei der Kürze der Geschichte nicht ins Gewicht fällt.

Am Kronleuchter über dem toten Immobilienmakler Barrow findet sich hängenderweise weibliche Unterwäsche. Zunächst wird ein Unfall vermutet, doch der hinzugezogene Sherlock Holmes glaubt, dass der Mann ermordet wurde. Kurt Mühles „Kandelaber-Dessous“ spielen sich in einem einzigen Raum ab. Was zu einem Kammerspiel mit schrittweisen Enthüllungen hätte werden können, wird leider zu schnell aufgelöst.

Unerklärliche Klopfzeichen aus einem verlassenen Haus und das rätselhafte Verschwinden eines Arbeiters veranlassen den Malermeister Duxberry dazu, Sherlock Holmes um seine Hilfe zu ersuchen. Nach Inspektion des Unglückshauses ist die Lösung für das Verschwinden des Handwerkers schnell gefunden. Doch „Die Blaue Taube“ führt den Detektiv in die Irre. Holmes findet allerdings auch Anzeichen für ein zweites Rätsel, das sich scheinbar unabhängig vom Ersten um das Haus rankt. Mit diesem doppelbödigen Fall gelingt Arthur Gordon Wolf ebenfalls eine gelungene Verbeugung vor Arthur Conan Doyle. Ein geheimnisvoller Fall, der sich – bis auf das Ende – gut in die Reihe der Doyleschen Holmes-Abenteuer einfügen würde.

Die Kaiserin Elisabeth von Österreich fällt unter mysteriösen Umständen einem Mordanschlag am Genfer See zum Opfer. Zeitgleich wird deren Wachsnachbildung in Madame Tussauds berühmten Kabinett ebenfalls durch einen Dolch beschädigt. Nachdem sein Bruder Sherlock versagt hat, nimmt sich Voodoo Holmes des Falles an. Zunächst fällt die Vorstellung schwer, dass die Brüder Sherlock und Mycroft einen weiteren Bruder mit dem dekadenten Vornamen Voodoo haben sollen. Auch kommt Sherlock Holmes in Bernd Riegers „Der Dolch“ nicht besonders gut weg, erweisen sich seine Vermutungen zum vermeintlichen Tathergang doch als – bis an die Lächerlichkeit grenzend – unwahrscheinlich. Glücklicherweise bekommt Berndt Rieger hier noch die Kurve und vermittelt zwischen den Zeilen, dass es ein harmloser Spaß ist, den er sich hier mit Sherlock Holmes erlaubt (Spitze ist die Enthüllung über Voodoo Holmes' Begleiter Watson). Bei allen literarischen Frotzeleien gelingt Berndt Rieger mit seiner Figur doch eine deutliche Verbeugung vor Arthur Conan Doyle. Voodoo verlässt sich bei seinen Ermittlungen ebenfalls auf die Möglichkeiten der logischen Deduktion, wie man diese von Sherlock Holmes kennt. Auch wenn sich die Auflösung des Falles als tatsächlich phantastisch erweist.
„Der Dolch“ ist außerdem ein gelungener Vorgeschmack auf den Band „Sherlock & Voodoo“, der derzeit unter der Ägide von Alisha Bionda entsteht.

Experimente müssen erlaubt sein
Sherlock Holmes ist eine der archetypischen Figuren, die sich in zahllosen Geschichten verwenden lassen und die man sogar meist problemlos in ein fremdes Umfeld versetzen kann, ohne der Figur größeren Schaden zuzufügen. Die Fähigkeit der detektivischen Deduktion und die Anwendung strikt logischer Denkprozesse, die Sherlock Holmes perfektioniert hat, kann schließlich in jedem beliebigen Umfeld, in dem ein etwas Unerklärliches passiert, von Nutzen sein.

Kranken die romanlangen Sherlock-Holmes-Geschichten, die nicht von Arthur Conan Doyle verfasst wurden, fast alle am Ehrgeiz der Autoren, zu viel erzählen zu wollen, kann dies bei Kurzgeschichten schon naturgemäß nicht passieren. Ein Umstand, der „Das Geheimnis des Geigers“ sehr zu gute kommt. Die Geschichten geben alle sehr gut Holmes' bekanntes Umfeld wieder. Die Stärken und Schwächen, die der Leser bereits aus Arthur Conan Doyles Geschichten kennt, bleiben erhalten. Holmes bei seinen Schießübungen, seinem Kokainkonsum oder seinen chemischen Experimenten zu „beobachten“, ist wie der erfreuliche Besuch eines alten Bekannten. Einige Autoren nehmen sich freilich immer die Freiheit, Holmes etwas gegen den Strich zu bürsten. Doch solche Experimente müssen erlaubt sein, wirken sie doch dem Staub des Alters entgegen. Auf dem Gebiet der rein mysteriös-detektivischen Kurzgeschichte ist Arthur Conan Doyle ohnehin nur wenig hinzuzufügen.

Obwohl nicht alle Geschichten ins Schwarze treffen hat Alisha Bionda doch als Herausgeberin wieder ein glückliches Händchen bewiesen und eine kurzweilige Sammlung zusammengestellt. Andreas Grubers Story „Glauben Sie mir, mein Name ist Dr. Watson“ wurde mit dem Deutschen Phantastik Preis 2006 ausgezeichnet.

Die unaufdringlichen Bleistiftzeichnungen von Andreas Gerdes sowie kurze Autorenporträts runden „Das Geheimnis des Geigers“ perfekt ab.