Leseprobe: Die Geschehnisse rund um den Schattenkelch spitzen sich zu!

London, Juli 2006, Südwesten
Mick hetzte wie ein Betrunkener durch den triefnassen Park. Innerhalb weniger Minuten war er völlig durchnäßt. Nach und nach kam bei ihm die äußerliche Normalität zurück, sein Gang wurde wieder gefestigter.
Die Laubbäume im Park waren vollständig ausgeschlagen und tauchten die ausgetretenen Wege durch ihre Dachfunktion in ein dunkles Schummerlicht. Mick lief ohne Ziel weiter, wußte aber genau, was ihm sein Geist befahl.
Seine lang unterdrückte Neigung war wieder hervorgebrochen und bestimmte ab sofort sein Denken und Handeln. Die furchtbarste Zeit auf Haiti hatte ihn wieder eingeholt und hielt ihn fest im Griff.
Die schnell verschlungenen blutigen rohen Fleischstücke, die er sich jeden dritten Tag einverleiben mußte, reichten nun nicht mehr aus. Endlich war es wieder einmal an der Zeit, lebendes Fleisch zu essen, wobei ein ganz wichtiger, ritueller Punkt zu beachten war: Erst fressen und keinesfalls zuerst töten.
Wenn der Bann nun nach all diesen langen Jahren wieder aufbrach, dann auch richtig und mit aller Raffinesse. Er wollte die Lust am Menschenfleisch voll und ganz auskosten und das heilige Ritual nicht halbherzig vornehmen.
Micks bronzefarbene Augen suchten nach einer schnellen Beute.
Er wollte Menschenfleisch!
Jetzt und hier!
Im Südwesten von London, an einem regnerischen Mittag im Juli!


*

London, Juli 2006, Richmond Park

Cassandra fluchte laut, als ihr ein tiefhängender nasser Zweig ins Gesicht schlug.
Sie fragte sich, womit sie das nur verdient hatte?
Seitdem sie ihren neuen Kollegen Mick Bondye kannte, rannte sie ihm in allen Lebenslagen hinterher und machte sich bei ihm wirklich zum Affen. Das konnte man ohne weiteres so sehen. Nur, sollte sie ihn deswegen jetzt alleine und unkontrolliert durch den Richmond Park irren lassen?
Natürlich nicht.
Mick war ein guter Kerl. Dieser Voodookram und diese Paste aus gesammelter Ameisenscheiße waren schuld daran, daß er langsam, aber sicher abdrehte.
Die vielen Erfolge der letzten Jahre forderten augenscheinlich ihren Preis.
Mick brauchte Hilfe, und die wollte Cassandra ihm geben. Da konnten ihm ruhig noch mehr seltsame Frauen wie Luna Sangue und Delphine über den Weg laufen. Von denen konnte Mick wohl kaum etwas erwarten.
Cassandra hielt inne und überlegte, in welche Richtung Mick wohl gerannt sein konnte.
Verdammt! Dieser Park war nicht gerade klein, genaugenommen war er der größte in London. Wie sollte sie Mick finden?
Unschlüssig drehte sie sich einmal im Kreis. Eigentlich war es sinnlos weiterzusuchen. Vielleicht tat ihm diese Abkühlung auch mal ganz gut. Und außerdem: Mick war alt genug, um – zum Teufel noch mal – selbst auf sich aufpassen zu können!
Cassandra stand kurz davor, ihrem Selbstüberredungsversuch zu erliegen, und war bereits soweit, die Suche nach Mick aufzugeben, als sie die fürchterlichen Schreie hörte.

*

Um diese Uhrzeit war der Richmond Park selten menschenleer. Außer bei einem solch ekelhaften Regenwetter wie an diesem Tag.
Mick stand auf einer kleinen Grünfläche, an der sich zwei der vielen Wege kreuzten, und wartete geduldig. Der Wind blies ihm rauh in das schöne ebenmäßige Gesicht. Die schwarze Paste hatte sich aus den Mund- und Augenwinkeln heraus durch den Regen verwischen lassen und bedeckte seine Haut wie eine bizarre Tätowierung.
Nach einigen Minuten erblickte er eine Person, verhüllt in einem großen hellen Regenumhang, die sich auf einem alten klapprigen Damenfahrrad durch den Dauerregen und gegen den Wind vorankämpfte. Meter für Meter kam das Fahrrad näher, und Mick spürte, wie sich sein Zahnfleisch verhärtete und sich brennender Speichel in seinem Rachen sammelte, bis es schmerzte.
Ein Windstoß riß die große Kapuze vom Kopf einer jungen rothaarigen Frau.
Sie ähnelt Cassandra sehr, durchzuckte es Mick.
Er rannte los.
Die Radfahrerin hielt inne, stieg von ihrem antiken Fortbewegungsmittel und machte Anstalten ihren Umhang wieder zu richten, als sie Mick auf sich zulaufen sah. Die Gefahr war offensichtlich. Nach einer Schrecksekunde begann sie laut zu schreien. Da war Mick mit einem riesigen Sprung bereits über ihr und riß sie zu Boden. Als sich seine Zähne in Hals, Schulter und Nacken der Frau schlugen, erstarb ihr angstvolles Gebrüll. Der Schock über den brutalen Überfall lähmte sie.

*

Cassandra spurtete in die Richtung, aus der sie die spitzen Schreie vernommen hatte.
Konnte das etwas mit Mick zu tun haben?
Sie schauderte. Was, um Gottes willen, stellte ihr Partner in seinem vorübergehenden Wahn an?
Nein! Es gab eigentlich keinen zwingenden Grund, die spitzen Schreie mit Mick in Verbindung zu bringen.
Sie hetzte weiter. Als Cop war es ihre Pflicht, zu helfen. Wo und wann auch immer.
Nur eine Minute später erreichte sie die kleine Wegkreuzung und sah kurz dahinter das alte Damenfahrrad liegen.
In Cassandra schrillten sofort sämtliche Alarmglocken. Sie riß ihre Waffe aus dem Holster und ging in bedachten Schritten parallel entlang zum Ort des Überfalls. Sorgsam sicherte sie sich dabei nach allen Seiten ab. Während sie ihre Dienstpistole in Anschlag brachte, sprang sie hinter einer kleinen Baumgruppe hindurch und sah Mick, wie er völlig durchnäßt auf dem Waldboden kniete und einer jungen Frau große breite Hautfetzen vom Hals zog. Dies war offensichtlich nicht sein erster Biß, denn der Nacken der Frau sah grausam zerklüftet aus. Ihr ganzer Oberkörper war blutüberströmt.
Doch die Frau lebte noch. Ihr Gesicht schimmerte kalkweiß, wie das einer Toten, aber ihre Augen waren noch so unglaublich voller Leben. Sie starrten Cassandra um Hilfe bittend an. Flehten um Gnade, Erlösung oder was auch immer. Ihr Körper war völlig unbeweglich vor Schreck, so steif, als wäre die Totenstarre längst eingetreten.
Doch ihre Augen lebten und würden so auch für immer in Cassandra weiterleben.
Mick schien zu spüren, daß jemand hinter ihm stand. Mit einem Ruck fuhr sein Kopf herum. Sein teilweise noch geschwärztes Gesicht war blutverschmiert und verzerrt wie bei einem wilden Tier, weiße kleine Hautfetzen hingen an seinem Kinn herunter.
Und Cassandra sah in seine bronzefarbenen Augen und steckte ganz langsam ihre Waffe wieder in das Holster zurück.