Leseprobe: Dilara und Calvin auf der Suche nach dem Schattenkelch!

Dilara ließ ihre Finger über die rauhen Buchrücken gleiten und atmete den Geruch alten Leders und Papiers.
Plötzlich erstarrte sie wie elektrisiert. Auf einem Umschlag war in feinen, verschlungenen Lettern der Schriftzug La chronique des ombres zu lesen. Das Büchlein war unauffällig, abgegriffen und aus dünnem Papier mit einem Einband aus gewachstem Karton gefertigt. Sie nahm es in die Hand.
Dilara spürte wie ihre innere Spannung wuchs, während sie das Buch öffnete, den Titel – leider ohne Nennung des Autors – überschlug, und auf eine mit „préface“ überschriebene Seite stieß. Der Text war handschriftlich eingefügt.
Sie überflog das Vorwort rasch, blätterte weiter zum ersten Kapitel, vorsichtig, denn das Papier war so hauchdünn, daß man beide Seiten gleichzeitig lesen konnte.
"La nature des ombres… von der Natur der Schatten“, murmelte sie. „Il est étonnant que je ne l’ai pas nommé un chronique du sang… es mag verwundern, daß ich dieses Buch keine Chronik des Blutes, sondern eine Chronik der Schatten genannt habe, ist doch der größte Teil seines Inhalts jenen Kreaturen der Nacht in ihren mannigfaltigen Gestalten gewidmet, die ihre Lebenskraft dem Blute anderer Wesen entziehen. Nein, eine Chronik der Schatten ist es, der Schatten, die mein Haus und meinen Geist umlagern und die Bollwerke einzurennen versuchen, die ich mühsam zu meinem Schutze errichtet habe. Jene Schatten, deren Abgesandter mich mit der Niederschrift dieser Chronik beauftragte. Ein Mensch ohne Schatten könne nicht sein, heißt es, doch...“
Dilara erschrak, als sich die Tür öffnete und Geneviève und Bruder Bernard die Bibliothek betraten. War denn bereits soviel Zeit vergangen? Warum war sie nicht früher auf das Buch gestoßen?
„Ah, interessant, Mademoiselle, daß Sie sich ausgerechnet mit diesem Buch beschäftigt haben“, sagte Bernard und nahm ihr die Chronik aus der Hand. „Ja, La chronique des ombres... ich habe davon gehört. Doch das sollte keine Lektüre für eine Dame wie Sie sein. Ich denke, es ist ein furchtbar theoretisches Buch.“
„Dieses Buch… ist interessant.“ stellte Dilara zögernd fest. „Ist es möglich, es auszuleihen? Ich…“
„Ich fürchte, leider nicht“, Bernards Züge hatten sich verhärtet. „Die Bücher der Bibliothek dürfen diesen Raum nicht verlassen. Allenfalls Mitgliedern meines Ordens ist es erlaubt, sie zu Studienzwecken mit in ihre Zellen zu nehmen. Diese altehrwürdigen Mauern bergen viele Schätze und Geheimnisse, auch solche, die eine Gefahr für den darstellen können, der sich ihnen unerfahren nähert. Seitdem im 7. Jahrhundert Judicaël, Sohn Joëls III., König von Dommonée, hier seine Einsiedelei errichtete, ist die Macht unseres Ordens fortwährend gewachsen. Dies ist uns jedoch nur gelungen, weil wir uns erfolgreich gegen die versuchte Einflußnahme der uns umgebenden Schattenmächte widersetzt haben. Ein Augenblick der Schwäche, der Unachtsamkeit möchte ausreichen, diesen heiligen Ort an die andere Seite zu verlieren.“


*


London, März 2006, Park Lane

Dilara war es, als ob sie aus einem langen und kraftzehrenden Traum erwache. Nur langsam fand sie sich in der Realität wieder. Die Erinnerung an die Ereignisse auf Schloß Comper war so plötzlich und mit einer ungeheuren Intensität über sie hereingebrochen, daß sie sich nur mit Mühe davon lösen konnte.
Doch es war von Belang, daß sie sich ausgerechnet jetzt erinnert hatte. Das spürte sie deutlich.
Die Schattenchronik. Eine französische Übersetzung.
Die Worte drängten sich förmlich in ihren Sinn, doch Dilara vermochte es nicht, sie vollends zu deuten. Sie mußte mit Calvin sprechen!
Ihr Gefährte betrachtete sie stumm. War selbst tief in Gedanken versunken. Dennoch war ihm Dilaras Gefühlschaos, das ihre gedankliche Reise in die Vergangenheit hervorgerufen hatte, nicht verborgen geblieben. Auch wenn er es nicht zuzuordnen vermochte.
„Cal, ich muß dir etwas erzählen!“
„Ich weiß!“ Die Sprache seiner dunklen Augen bestätigte, daß er wirklich wußte, was Dilara bewegte. Zumindest, daß es etwas war, das sie beide betraf und wichtig für sie war. „Ich bin ganz Ohr!“
„Ich hatte mal eine Begegnung in Frankreich, die nicht unwesentlich war... auf Schloß Comper...“
„Schloß Comper?“ Calvins Stimme klang irgendwie alarmiert.
Dilara nickte, schon wieder tief in ihren Erinnerungen verstrickt. „Cal, ich habe dort ein Buch gesehen, in der Abtei von Paimpont.“
„Ich kann dir leider nicht folgen, wenn du nicht deutlicher wirst!“ brummelte Calvin.
„Es war die Schattenchronik.“
„Moment mal, die haben wir doch!“
„Ja, aber nur eine Ausgabe der Chronik. Es muß weitere Kopien und Übersetzungen geben. Aber weißt du, was das Aufregendste an der ganzen Sache ist?“
„Hmmm…“ Calvin schien ihr immer noch nicht folgen zu können.
„Die Chronik, die ich in Paimpont gesehen habe, war geordnet!“