Leseprobe: Die Vampirin Dilara hadert mit ihrem Leben & Schicksal.

London, Hyde Park, 1601, Tyburn Gallows
Die Schlinge straffte sich mit einem heftigen Ruck um ihren Hals, zog sich immer unbarmherziger zusammen, grub sich dabei tief in ihr Fleisch und schnürte ihr die Luft ab. In Dilara stieg Panik auf, die immer mehr ausuferte.
Sie wollte nicht sterben!
Aber wer wollte das schon? Niemand - und sie erst recht nicht! Jetzt, da sich ihr gerade Dinge eröffneten, die bar jeglicher menschlichen Erklärung waren. Verzweifelt dachte sie darüber nach, wie sie sich dieser tödlichen Umklammerung noch im allerletzten Moment entziehen konnte. Doch das war unmöglich, denn man hatte ihr die Hände fest auf den Rücken gebunden und sie dadurch bewegungsunfähig gemacht, wie all die anderen Sträflinge, die vor ihr an diesem Galgen ihr Leben verloren hatten. Hier, an den berüchtigten Tyburn Gallows, die zur Exekution von mehr als zwanzig Menschen gleichzeitig vorgesehen waren, sollte nun auch ihr Leben enden. Dilara wurde von einem Schauer ergriffen. Sie mußte an die Vision denken, die sie heimgesucht hatte, kurz bevor die Polizisten sie in ihrem Haus verhaftet hatten. Dilara dachte an Charles, den Mann, der sie heiraten wollte, und der tot und von einer Blutlache umgeben auf ihrem Bett gelegen hatte. Ihre Ankläger mußten davon ausgehen, daß sie eine Mörderin auf frischer Tat ertappt hatten. Doch Dilara wußte es besser. Hinter all dem steckte nur einer: Antediluvian! Er hatte Charles zu Tode gebracht, hatte ihn mit geradezu animalischer Brutalität getötet, und er war es gewesen, der ihr die Schattenchronik zugespielt hatte; wie auch immer er das zuwege gebracht haben mochte. Aber sie hatte längst aufgegeben, das ergründen zu wollen, ebenso wie den Sinn und Zweck seines unvermuteten Auftauchens.
Noch immer war ihr unklar, was er bezweckte und ob es ihn wirklich gab, oder ob alles, was ihn und die Schattenchronik betraf, nur auf Visionen oder dunklen Alpträumen beruhte. Der Verdacht lag nahe, daß es letzteres war. Dilara wußte rückblickend nicht mehr zwischen Realität und Traumwelt zu unterscheiden. Aber bald würde das nicht mehr von Bedeutung sein, denn ihr Leben war verwirkt.
Dilara dachte an den Prozeß, den man ihr gemacht hatte, und wie schnell sie sich in Widersprüche verwickelt hatte. Wie hätte sie auch erklären sollen, daß sie sich nicht mehr erinnern konnte, wie sie an die alte Chronik gekommen war, an jenen Folianten mit dem mit seltsamen Flügelwesen versehenen vernarbten Ledereinband. Sie erinnerte sich an den unerklärlichen Nervenkitzel, der sie befallen hatte, als sie den Buchdeckel zum ersten Mal aufgeklappt und die vergilbten Seiten betrachtet hatte. Der Geruch nach Moder, Fäulnis - und Tod - war ihr entgegengeschlagen, und ihr Herz hatte laut und hart zu klopfen begonnen, als ihr Blick auf die Zeichnung der mißgestalteten, schattenhaften Gestalt fiel, die die linke Seite des Buches einnahm. Fast ganz verhüllt durch einen dunklen Umhang, der dennoch die angespannte, fast raubtierhafte Haltung nicht verbergen konnte, mit der sich die düstere Gestalt über etwas beugte, das ein Mensch, aber auch ein Tier sein konnte; vielleicht auch keins von beiden. Irgendetwas Schreckliches passierte dort... das wußte Dilara in diesem Augenblick mit untrügerischer Sicherheit.
Antediluvian.
Der Name des Ur-Ahnen des Geschlechts der Nosferati stand in großen Lettern unter dem Bild. Wie hätte sie das ihren Anklägern erklären sollen, ebenso wie die Tatsache, daß sich das alte Buch, das sie, um seiner morbiden Aura zu entgehen, eigentlich dem Feuer übereignen wollte, in Luft aufgelöst hatte? So mysteriös, wie es aufgetaucht war, war es auch wieder verschwunden, als habe es seinen Zweck erfüllt. Hatte Antediluvian es wieder mit in sein düsteres Reich genommen?
Dies würde ebenso unbeantwortet bleiben wie all die anderen Fragen, die Dilara beschäftigten. Das Blut hämmerte heftig hinter ihren Schläfen. Dilara fühlte ohnmächtigen Zorn in sich aufsteigen. Auf ihre Richter, aber auch auf sich selbst. Hatte sie genug Argumente für ihre Unschuld geliefert? Doch welche Begründung hätte sie für die schrecklichen Wunden an Charles' Kehle abgeben sollen, die eindeutig von keinem Messer oder sonstigem Mordwerkzeug, sondern nur von dem Gebiß eines Raubtieres herrühren konnten?
Dilaras Gedanken überschlugen sich. Sie war zwar schuldig gesprochen worden, weil beim Eintreffen der Polizisten niemand außer ihr im Raume gewesen war und Charles' Blut an ihr und ihrer Kleidung haftete. Somit stand es für die Gerichtsbarkeit fest, daß nur sie für seinen Tod verantwortlich zu machen war. Dennoch sollte ihre Hinrichtung unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden, nicht - wie es sonst üblich war und wie es Dilara in einer ihrer "Visionen" gesehen hatte - vor den Augen der Sensationslüsternen. Die fast täglich stattfindenden Hinrichtungen im Londoner Hyde Park zogen sonst Menschen in Scharen an. Aufgeregt flüsternd und dicht aneinandergepreßt standen sie da und starrten auf die Hinzurichtenden, die vor ihren Augen zu Tode kamen. Dilara hatte die Faszination für den Tod anderer Menschen, selbst wenn es überführte Mörder oder Straftäter waren, nie verstanden. Ebensowenig wie den dekadenten Nervenkitzel, der die Zuschauer beim Anblick des Todeskampfes der Delinquenten befiel. Die Verurteilten wurden - teilweise schon mit der Schlinge um den Hals - auf Karren vom Newgate-Gefängnis herangefahren und an den todbringenden Baum geknüpft. Dann fuhr man den Karren einfach weg.
Dilara hatte man jedoch allein und im schützenden Dunkel der Nacht an den Galgen gefahren, sie somit einsam ihrem Scharfrichter überlassen, der stumm seine "Arbeit" verrichtete und sofort die Hinrichtungsstätte verließ, nachdem sich die Schlinge um ihren Hals gezogen hatte. Eilig, ohne sich davon zu überzeugen, ob sein Opfer auch tatsächlich zu Tode gekommen war, steuerte er das Pferdefuhrwerk davon - ohne sich auch nur noch ein einziges Mal umzusehen. Ganz so, als wolle er nicht bei seinem zweifelhaften Tun beobachtet oder entdeckt werden. Oder als wolle er vermeiden, damit in Zusammenhang gebracht zu werden.
Das hatte einen Grund!
Sie war unschuldig.
Doch das hatte jene, die über sie Gericht gehalten hatten und nur das Offensichtliche sehen wollten, nicht gekümmert. Nun hing auch sie an dem Galgen, des Mordes und der Hexerei beschuldigt. Letzteres, weil die Nachforschungen in ihrem Haus ergeben hatten, daß sich Dilara mit okkulten Schriften befaßt hatte. Sehr schnell hatte man ihr nachgesagt, sie habe einen Liebeszauber über Charles verhängt, um ihn an sich zu binden und ihn dadurch zur Heirat zu nötigen, jetzt, da er durch eine Erbschaft vermögend geworden war. Die grauenvollen Verletzungen, die ihn zu Tode gebracht hatten, waren schnell mit der Anwendung schwarzer Magie erklärt, mit unheilvollen Kräften, die in Dilara wirkten und die in ihr einen Dämon entfacht hatten.
Schlieren legten sich vor ihre Augen und nahmen ihr das Licht. Jenes, das sie noch von der ewigen Dunkelheit, die bereits gierig die Hände nach ihr ausstreckte, abgrenzte. Alles in ihr schrie danach, am Leben zu bleiben. Sie war noch so jung, und in ihr waren noch so viele Fragen. Sie war eine Frau, die dem Leben noch einiges abzugewinnen hatte. Doch gerade das hatte sie zu Fall gebracht. Ihre Neugier, ihre Faszination zu erfahren, was es alles zwischen Himmel und Hölle gab.
Und auch das hatte einen Namen: Antediluvian.
Das Unheil hatte begonnen, als die Schattenchronik aufgetaucht war. Einfach so, aus dem Nichts. Von der ersten Seite an, die Dilara mit fiebriger Neugier aufschlug, war sie gefesselt von dem morbiden Inhalt des Werkes, das ihr offenbarte, daß es Nosferati wirklich gab. Jene unsterblichen Schattenwesen, die vom Blute anderer lebten. Sonderbarerweise zweifelte Dilara, die sonst stets Mißtrauen in sich trug, nicht an der Existenz jener mysteriösen Geschöpfe der Nacht, von denen das alte Buch berichtete. Dunkle Träume hielten Dilara fortan in den Nächten gefangen. Träume, deren schlimmster Alp nun wahr werden sollte.
Der unruhige Pulsschlag hinter ihrer Stirn schwoll immer mehr an, mündete in ein rasendes Klopfen, das ihren Kopf fast zum Bersten brachte. Verzweifelt schickte Dilara ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel und somit zu ihrem Gott. Doch es blieb still um sie und in ihr. Selbst er ließ sie wie alle anderen im Stich. In ihrer Verzweiflung erinnerte sie sich an die Mächte der Finsternis, von denen sie in der Schattenchronik gelesen hatte. Jene Mächte, die ihr bereits auch in der Wirklichkeit begegnet waren. Erst als verzerrte Schatten, die sie zur Mitternacht im Hyde Park umschwebten. Düstere Schemen, die immer mehr Gestalt annahmen und zu denen sie sich aberwitzigerweise zugehörig fühlte. Dann in Person des Urvampirs Antediluvian, der ihr Angst einflößte und sie dennoch in seinen Bann zog, obwohl er sie in diese ausweglose Situation gebracht hatte. Da war von Anfang an eine alte Vertrautheit zwischen ihnen, die sie sich nicht erklären konnte. Und nicht nur das, da war plötzlich auch eine Stimme in ihr - die Stimme des Blutes, die sie verband, deren Sprache sie noch nicht verstand, die sie aber erlernen wollte. Wie all das andere, das Antediluvian ihr versprach.
Doch nun, da ihr die Sinne allmählich schwanden, ihr Leben verwirkt schien, versagte auch er ihr die nötige Hilfe. War er ihrer schon wieder überdrüssig geworden? Oder war das ein weiteres seiner Ränkespiele?
Dilara spürte, wie die Lebensenergie immer mehr aus ihr entwich, wie sich bleierne Schwäche ihrer bemächtigte. Ihre Gedanken verschleierten sich, sackten ab und wurden träge. Eine verführerische Mattigkeit umfing sie. Plötzlich wollte sie schlafen... nur noch schlafen. Sie war so müde, des Lebens müde; des Lebens, das sie geführt hatte. Es hatte so enge Grenzen. Grenzen, die von anderen gesetzt wurden und die Dilara einengten. Sie dachte daran, daß ihr Leben nie leicht gewesen war, weil sie anders war als die Frauen ihrer Zeit. Sie war nicht so angepaßt und demütig und ging immer ihrer eigenen Wege. Sie hatte sich nie der strengen gesellschaftlichen Reglementierung unterworfen und war dadurch schnell zu einer Randfigur geworden. Eine Außenseiterin, die von ihrem Umfeld mißtrauisch beäugt wurde. Nun wurde ihr dies zum Verhängnis.
Dilara versuchte ein letztes Mal, die Augenlider zu öffnen. Sie flatterten unruhig wie Rabenschwingen. Sie war müde, so müde...
Da!
War da nicht ein Schatten in der Finsternis, die sich schon lebensbeendend über sie legen wollte? War da nicht eine schemenhafte Gestalt, die sich langsam und würdevoll auf sie zubewegte? Erklang da nicht eine Stimme, die jetzt zu ihr sprach:
"Willst du LEBEN?"
Dilara versuchte heftig zu nicken und das erlösende JA herauszupressen. Aber beides gelang ihr angesichts des Strickes um ihren Hals nicht. Nur ein Gurgeln entrang sich ihrer Kehle.
"Du wirst leben, wenn du mir deine Seele gibst! EWIG leben... oder zumindest, so lange ich es gestatte!" Die Stimme war dunkel und sehr männlich, dabei aber sahnig - durchzogen von einem maliziös-einschmeichelnden Klang. "Es bedarf nur eines einzigen Wortes!"
Sie wollte den Mund öffnen. Als letzte Rettung vor dem sicheren Tod.
Zu spät!
Der Strick schnürte sich noch enger um ihren Hals. Schnitt tiefer in ihre Haut, ihr Fleisch und ihren Kehlkopf. Die Dunkelheit nahm zu und wuchs zu einer Schwärze an, die sich wie ein schweres Leichentuch über sie legte.
Es zog sie unaufhörlich hinab... der endlose Fall war schwebend... beinahe zärtlich.
Dilara fühlte sich leicht und frei. Wenn das der Tod ist, durchzog es sie, dann will ich mich ihm willig übereignen.
Etwas veränderte sich.
War da noch der Strick um ihren Hals?
Der Druck war urplötzlich verschwunden. Dafür spürte sie Schärfe an ihrer Haut... fühlte etwas Spitzes darin eindringen... einen kurzen Schmerz, der aber sekundenschnell wieder abebbte. Ihr war, als verspüre sie ein beinahe sanftes, zärtliches Saugen an ihrem Hals. Fühlte, wie mit jedem Pulsschlag ihr Leben entwich... aber auch neues in sie einfloß - so widersinnig das auch war. Das muß das geistige Abgleiten vor dem Tod sein, das mich narrt, dachte sie. Doch der Druck um ihren Hals, die tödliche Umklammerung und die Atemnot hatten nachgelassen. Die Kraftlosigkeit, die sich ihrer bemächtigt hatte, jedoch nicht. Sie nahm mit jedem Atemzug, den sie schöpfte - wieder schöpfen konnte - zu. Doch es war eine wohlige Schwäche, durchwirkt von tiefer Zufriedenheit, die immer mehr zu einer neuen Gelassenheit wurde, die Dilara erfüllte. Gelassenheit und Würde.
Dilara fühlte sich hochgehoben und von dem Galgen fortgetragen. Geborgenheit machte sich in ihr breit. Und das aberwitzige Gefühl von Sicherheit. Ebenso Durst... sie war so durstig. Nach schwerem Portwein, der süß und dickflüssig wie Blut ihre Kehle hinunterrann. Blut.
Sie fühlte, wie ihr eigenes in einem feinen Rinnsal ihren Hals hinablief. Der Duft stieg verführerisch in ihre Nase und ließ sie erbeben. Er hatte etwas Erotisches, etwas Stimulierendes.
Dilara fühlte sich weiter fortgetragen... ihr Geist verlor sich endgültig im Dunkel.
Das Letzte, was sie vernahm, war ein düsteres und sehr zufriedenes Lachen. Eines, das sie kannte.
Es war Antediluvians Lachen!