Leseprobe: Gefahr aus dem Reich der Mitte!

London, Juli 2006, LUNA-Tower
Luna Sangue genoß das Gefühl unbegrenzter Macht, das sie seit ihrem Blutopfer durchströmte. Der einzige Wermutstropfen war, daß sie diese mit vier anderen Vampiren teilen mußte. Doch soweit sie es beurteilen konnte, verfolgten die anderen, ebenso wie sie, ihre eigenen Ziele und würden ihr nicht in die Quere kommen.
Jedenfalls vorerst nicht!
Was mit dem geschah, der es wagte, ihre Kreise zu stören, hatte Mark Garimont am eigenen Leibe erfahren und nicht anders verdient. Sie forderte Loyalität und unbedingten Gehorsam. Doch selbst durch seine Intrige hatte ihr Garimont in die Hände gespielt, und war Teil der Zeremonie in den geheimen Katakomben unterhalb der St. Paul’s Cathedral geworden.
Lunas Augen verengten sich zu leuchtenden, bernsteinfarbenen Schlitzen, als sie an den Moment dachte, als Mark Garimonts Blut in das Gefäß des Schattenkelches geflossen war und sich mit dem der anderen vermischt hatte.
Nun war es an der Zeit, sich einen neuen Berater zu wählen. Dabei galt es, mit Bedacht vorzugehen. In der Schattenwelt bereitete es ihr keine Schwierigkeiten, ungehindert aufzutreten und ihre eigene Politik durchzusetzen. In der ihr fremden Welt der Menschen hingegen fiel es ihr nach wie vor schwer, ihre Vorstellungen umzusetzen. Sie benötigte dafür jemanden, der die Menschen besser verstand als sie, und der unter ihnen lebte. Sozusagen einen Mittler, einen Wanderer zwischen beiden Welten.
Es wurde Zeit, wieder ihre Geschäfte aufzunehmen, die ihr binnen kürzester Zeit Macht verliehen hatten. Es war so einfach, Einfluß über die Menschen zu gewinnen. Dazu hatte sie anfangs nur ihre atemberaubende Schönheit einsetzen müssen. Es war ein Leichtes gewesen, den Männern den Kopf zu verdrehen. Dabei zog sie alle Register ihres Könnens, schließlich sollte niemand bemerken, wie sie mehr und mehr Geld und Wissen erwarb, das sie ausschließlich zu dem Zweck einsetzte, es weiter zu mehren.
Luna dachte triumphierend an die Zeit, als sie genug Kapitel besessen hatte und alle Mittelsmänner und Partner, die nun für sie nutzlos und somit uninteressant geworden waren, fallengelassen und LUNATIC-Cosmetics gegründet hatte. Damit provozierte sie eine Reihe unerklärlicher Selbstmorde in prominenten Kreisen. Die, die es nicht verwinden konnten, fortan auf ihre Liebesdienste verzichten zu müssen, hatten ebenso den Freitod gesucht wie jene, die befürchteten, daß Luna Sangue das Wissen, das sie ihr in schwachen Momenten anvertraut hatten, für ihre eigenen Ziele nutzen würde.
Wie hatte sie es genossen, all das mit anzusehen!
Wie sehr hatte es ihrer Urseele, sich an dem Schmerz ihrer Opfer zu ergötzen, entsprochen und sie genährt!
Doch auch ihr Konzern war nicht unverwundbar. Sie hatte ihre Aufgaben in letzter Zeit zugunsten der Jagd nach dem Schattenkelch sträflich vernachlässigt und sah ihre Position nun geschwächt. Die Führung des Konzerns verlangte wieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
Als sie nach der Zeremonie unter der Kathedrale in ihr Büro im obersten Stockwerk des LUNA-Towers hoch über London zurückkehrte, fand sie auf ihrem Schreibtisch ein Dossier, das die Geschäftsdaten des vergangenen Monats zusammenfaßte. An der Börse und bei den Verkaufszahlen war es zu rapiden Gewinneinbrüchen gekommen. Es schien daran zu liegen, daß immer häufiger in großen Mengen billige Imitate ihrer Kosmetiklinien auf den Markt geworfen wurden. Imitate, die natürlich nicht die verjüngende Wirkung besaßen, die Lunas Produkte auszeichneten. Denn ihr unbekannter Konkurrent verfügte nicht über die notwendigen Herstellungstechniken. Die menschliche Forschung konnte sie ihm nicht geben – sondern nur das uralte Wissen, das Luna aus Aztlan mitgebracht hatte, und das sie sorgsam hütete. Aber es schien den Kontrahenten nicht davon abzuhalten, den Markt mit seinen Fälschungen zu überschwemmen, die sogar eine schädliche Wirkung hatten und LUNATIC-Cosmetics damit noch mehr Schaden zufügten. Denn seither wurde sie von einer Welle von Schadenersatzklagen überrollt.
Luna setzte sich in aufrechter und kämpferischer Haltung hinter ihren Schreibtisch und ergriff das Telefon.
Der neue Mann an ihrer Seite würde sich darum kümmern müssen. Seine erste Aufgabe allerdings lautete, das Verschwinden seines Vorgängers allerorts plausibel zu erklären. Luna und der Bund der Fünf konnten es nicht zulassen, daß Scotland Yard aufmerksam auf sie wurde. Gottlob hatten sie mit Mick einen guten Mann an der Quelle. Luna lächelte zufrieden. Bisher verlief alles in ihrem Sinne, und sie würde alles daran setzen, daß es auch so blieb