Unter dem Vollmond III

Leseprobe: Unter dem Vollmond III

Die Stadt, die sich von oben betrachtet wie verschieden geformte Puzzlestücke aus Asphalt und Bruchstein an die Grünanlagen schmiegte, war zu dieser Stunde wie ausgestorben. Straßenlaternen glommen wie verblassende Glühwürmchen und betonten die Dämmerung eher, statt sie zu vertreiben. Zu Verenas Rechten raschelte es in den Büschen des Stadtwaldes. Eine Amsel zwitscherte ihr Morgenlied, und Verena ertappte sich dabei, wie sie die Augen immer ein wenig länger geschlossen hielt und schließlich gähnte. Jetzt war es nicht mehr weit bis zu dem Mehrfamilienhaus, wo sie im Parterre lebte.
Bei der nächsten Wegkreuzung schob sich Verena durch ein Drängelgitter, das Radfahrern den Zugang in den Park erschweren sollte. Sie fröstelte und hatte es jetzt eilig.
Aber sie war zu fahrig. Ihre Tasche blieb an einer der Metallstreben hängen und zog sie zurück. Verena geriet aus dem Gleichgewicht und prallte mit dem Hüftknochen gegen die Eisenstange. Au, verdammt!
Hektisch befreite sie den Riemen und merkte, wie ihr Atem schneller ging. Sie fühlte sich unwohl, so zwischen Eisenstreben gefangen – wie in einem Käfig. Wie damals bei dem Unfall ...
Ein kahler Ast, der aus einem Rhododendron ragte, erregte ihre Aufmerksamkeit und lenkte sie kurzfristig von den Ängsten ab. Verena erstarrte, und dann raste ihr Herzschlag erst recht. Das war kein Holzstück – es war ein menschlicher Arm!
Sie trat widerstrebend einige Schritte darauf zu. Hier trafen sich die Lichtkreise zweier Laternen und leuchteten jede Einzelheit aus. Verenas Füße sanken bis zu den Knöcheln in die feuchte Wiese. Nach wenigen Metern blieb sie stehen. Nahe genug. Kein Zweifel, dort lag ein Arm.
Eine leise innere Stimme hatte Verena weismachen wollen, es sei vielleicht nur der Teil einer Schaufensterpuppe, die Spaßvögel hier versteckt hatten. Aber ihre besondere Gabe enthüllte die grausige Wahrheit. Im Zwielicht erkannte Verena deutlich die olivgrüne Aura, die typischerweise Leichen umgab. Weiter hinten schimmerte ein Stück, das beinahe so aussah wie ein algenbedeckter Torso.
Verena schluckte, um den Kloß loszuwerden, den sie in ihrem Hals verspürte. Körperteile waren ihr schon von Berufs wegen nicht fremd. Sie hatte in der Klinik eine Menge Tote gesehen, und nicht zuletzt im ersten Semester bereits einen Mann seziert. Meistens sahen die Verstorbenen aber entspannt aus – gelöst und irgendwie entrückt, nicht nur für ihre geschärften Sinne. Das hier war vollkommen anders. Die Leichenteile lagen über mehrere Meter verstreut. Respektlos hingeworfen, wie von einem wütenden Kleinkind, das eine Puppe zerreißt. Dahinten schien etwas wie ein Fuß ... Verena hörte ihren Atem lauter werden. Kam das Keuchen von ihr?
Ein Teil ihrer Wahrnehmung suchte nach den fehlenden Stücken, die ein lebendes Wesen gebildet hatten. Ein anderer Bereich ihres Bewusstseins registrierte, wie sich die Luft feucht auf ihrem Mantelkragen niederschlug, und dann ... War das vielleicht nur ein Albtraum?
Etwas knackte.
Verena zuckte zusammen. Ihr Blick fiel auf ein Muster, das Füße auf der taugetränkten Wiese hinterlassen hatten. Eine Spur dunkler Abdrücke mit recht großem Abstand voneinander. Sie endete an einem Gebüsch innerhalb der Parkanlage.
Die Erkenntnis, dass es nur eine Fährte gab, traf Verena wie ein Schlag. Es führte keine zweite Spur zurück: Der Mörder lauerte hier noch irgendwo.
»O Gott!« Ihr Magen zog sich zusammen. Sie war allein mit einer Bestie in Menschengestalt! Verena wünschte sich in den Körper des Kaninchens von vorhin. In Mulden huschen, Deckung suchen und davonspringen.
Es knisterte zwischen altem Laub und dünnen Ästen. Ihr wurde heiß, trotz der morgendlichen Kälte. Verena drehte sich um, steifbeinig und immer noch wie vor den Kopf geschlagen. Sie lief zum Weg zurück, so schnell das marode Knie es erlaubte. Kein Gedanke mehr an die Zuflucht ihrer warmen Wohnung. Verena musste fort, unter Menschen, sich in Sicherheit bringen, Hilfe holen ... Die Überlegungen wirbelten in ihrem Kopf, und sie konnte nicht Schritt halten mit diesem Karussell.
Am Saum des Parks warf sie einen ängstlichen Blick über die Schulter zurück. Ein Schatten erhob sich zwischen den Büschen. Ehe Verena ihn genauer ansehen konnte, trugen ihre Füße sie wie von selbst zwischen parkende Autos am Straßenrand und fort vom Stadtwald. Als sie sich das nächste Mal gehetzt umdrehte, war auch die Gestalt untergetaucht.
Gepresst stieß Verena den Atem aus. Sie eilte weiter, fort von der Grünanlage. Sie hielt nicht mehr an, um sich umzusehen, richtete aber all ihre Sinne nach hinten aus. Ihre Schritte erklangen auf dem Asphalt. Hinter sich hörte sie ein Schlurfen. Verenas Hand schloss sich um eine kleine Dose mit Pfefferspray in der Tasche, die andere suchte das Handy, aber das steckte zuhause in der Jacke, die sie zum Waschen rausgelegt hatte. Sie musste unter Menschen, zu einem Telefon.
Ein Stück die Straße hinunter lag ein Kiosk, und dorthin wandte sie sich. Weiter zurück schlug etwas gegen eine Stoßstange. Im Vorbeigehen suchte Verena in den spiegelnden Autoscheiben nach ihrem Verfolger. Ein vager Umriss zeichnete sich im Glas ab, Verena beugte sich vor und übersah in ihrem Eifer die Bordsteinkante. Der Stoß, als sie das steife Bein zu hart aufsetzte, drang bis zu ihren Zähnen. Schlagartig wechselte das Knie vom Sand-im-Gelenk-Gefühl zur Phase Glassplitter über. Sie verlor die Gestalt aus den Augen.
Verena zischte vor Schmerz. Ihre Finger stahlen sich automatisch zu der wehen Stelle. Eine Sekunde verharrte sie gebeugt, die Hand schützend um die Kniescheibe gelegt, spähte zurück, dann nach links und rechts. Aber da war nur die Dämmerung, in die sich allmählich eine Ahnung des Sonnenaufgangs schlich. »Wo versteckst du dich?«, murmelte sie. Zorn mischte sich in die Angst.
Eine Ampel schaltete von Rot auf Grün. Das Licht erinnerte Verena an die Abstrahlung der zerfetzten Leiche, und sie unterdrückte ein Würgen. Sie hastete weiter, vorbei an einem Abbruchhaus und um die Ecke. Nirgendwo Licht, alle Blankenrainer schliefen noch.
Der kleine Laden am Ende der Straße sah aus wie ein überdimensionaler, antiker Sekretär. Der Rollladen über dem Tresen war geschlossen. »Internationale Presse« formten abblätternde Buchstaben an der Wand des Kiosks. Auf dem Bordstein davor lag ein aufgeplatztes Zeitungspaket. »Lumpensammler-Morde ohne jede Spur«, las Verena im Vorbeihasten.
Hier würde sie keine Hilfe finden. Sie war immer noch auf sich allein gestellt. Auf sich und ihr medizinisches Wissen über besonders verwundbare Stellen des menschlichen Körpers.
Da kam ihr der rettende Einfall. Rasch lenkte sie ihre Schritte zum Bahnhof. Selbst wenn kein Zug mehr verkehrte, stand dort zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Taxi. Verena biss die Zähne zusammen. Im Eilschritt überquerte sie das Kopfsteinpflaster. Es wären höchstens fünf Minuten Gehweg von hier, wenn auch in anderer Richtung als zuvor. War der Verfolger überhaupt noch hinter ihr?
Sie entfernte sich weiter von ihrer Wohnung. Verena konnte nicht riskieren, ihn zu sich nach Hause zu führen. Allmählich geriet sie außer Atem. Zu den Stichen im Knie, die in immer rascherer Folge durch das Gelenk schossen, kam ein dumpfes Drücken in jenem Fuß, den der Unfall zerschmettert hatte. Mit den heutigen Mitteln der Medizin hätte man die Knochen wesentlich genauer zusammensetzen können. Sie müsste nicht dauerhaft Schmerzen leiden. Aber damals steckte die Mikrochirurgie noch in den Kinderschuhen. Wenig orthopädischen Kinderschuhen – haha.
Zum eigenen Erstaunen hörte Verena ihr bitteres Lachen.
Sie hatte den Unfall überlebt, der ihr die Familie genommen hatte, die Unterbringung bei den gleichgültigen Pflegeeltern überstanden, und sie würde auch die Begegnung mit dem Lumpensammler für sich entscheiden.
Eine Woge von Energie beflügelte sie.
An der Kreuzung stand eine tröstlich beleuchtete Telefonzelle, aber Verena konnte sich nicht dazu überwinden, sie zu betreten. Wieder ein Käfig aus Metall und Glas! Sie wäre darin gefangen und zudem vom Licht geblendet. Wie sollte sie da die Umgebung im Auge behalten? Und bis sie eine Nummer gewählt hatte und die Verbindung stand, mochte alles zu spät sein.
Zum Bahnhof musste sie nach rechts. Verena bog ab und erkannte den Fehler in ihrem Plan. Blankenrain war stolz auf seine dicht bepflanzten Alleen, die Besucher schon von weitem empfingen oder aus der Stadt hinausgeleiteten. Die Straße zum Bahnhof war mit niederstämmigen Zierkirschen gesäumt und bot im Sommer schattige Parkplätze. Aber im Moment waren die Bäume für Verena nur finstere Säulen, hinter denen sich wer-weiß-was in den Schatten schmiegen konnte.
Irgendwo im Hintergrund stürzte etwas um und rollte scheppernd durch den grauen Morgen. Verena ballte die Fäuste. Würde sie jetzt umkehren, so liefe sie dem Mörder direkt in die Arme.
Wenn wenigstens ein Auto käme, ein einsamer Pendler auf dem Weg zum Frühzug! Verena hinkte mitten auf den Asphalt, damit sie so viel Abstand wie möglich zu den verschatteten Straßenrändern gewann. So konnte sie auch am besten einen Wagen stoppen.
Ängstlich blickte sie sich um. Sie sah wieder nur eine flüchtige Bewegung, mehr das Huschen eines Tieres als das eines Menschen. Der Verfolger duckte sich sofort weg, keine Zeit um ihn mittels der Aura genauer zu bestimmen. Dennoch: das war zweifelsohne kein streunender Hund, sondern ein Zweibeiner gewesen.
Verena lief es eiskalt den Rücken herunter. Sie legte trotz des wummernden Knies einen Schritt zu. Die halbe Strecke zum Bahnhof stand ihr noch bevor. Gut, sie hatte das Pfefferspray. Dreimal atmete sie tief ein und bereitete sich auf die Konfrontation vor...

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