Begegnung mit Skinner

Leseprobe: Begegnung mit Skinner

„Folgen Sie mir“, forderte Skinner das Mädchen kurzangebunden auf. Er wandte sich nach rechts, wo sich in einer Ecke eine stählerne Wendeltreppe in höher- wie tiefergelegene Geschosse schraubte. „Das Heiligtum ist zuoberst.“
Gemeinsam stiegen sich hoch, passierten das erste Stockwerk, das erneut nichts anderes als eine riesige, der Leere gewidmete und scheinbar zwecklose Halle war. Noch nicht einmal Traumfänger, ob nun als indianischer Schutz vor bösen Träumen oder schlichte Dekoration, hingen hier von der Decke. Weiter führte die Treppe. Im zweiten Stockwerk sah es um keinen Deut anders aus; ein Geständnis an die perfekte Schlichtheit und das Nichts. Als sie jedoch das dritte und oberste Stockwerk betraten, änderte sich alles.
Die Wendeltreppe führte direkt in einen breiten Gang, in dem Laika die Aura, die sie schon außerhalb des Gebäudes wahrgenommen hatte, weitaus intensiver spürte, ähnlich einer kalten Hand, die sich um ihr Herz schloss und ein wenig, nur ein klein wenig, zudrückte. Doch reichte dieses Wenige bei weitem aus, dass sie nur noch in kleinen, nervösen Stößen zu atmen vermochte.
„Das Heiligtum“, presste Skinner gequält hervor. Er warf Laika den beunruhigenden Blick zu, den sie bereits kannte: dieses Aufflackern schwelender Glut. Genau so, wie sie es erst vor kurzem gesehen hatte, als er der vertrockneten Rose einen zweiten Frühling schenkte und sie noch einmal in erhabener Frische erblühen ließ. Nur, dass während der Demonstration im Varieté kein Schweißfilm auf seiner Stirn geglänzt hatte.
Ich wette, dir gefällt das nicht, dachte Laika. Dann konzentrierte sie sich auf den vor ihnen liegenden Gang, der sie – wie sie vermutete – zum Heiligtum führen würde. Hier gab es keine Bogenfenster, durch die Tageslicht hätte eindringen können. Dafür erzeugten in regelmäßigen Abständen im Boden eingelassene runde Leuchtkörper fahle Lichtinseln, die den Weg wiesen und einen zuweilen durch Schwärze wandern ließen. Die Wände dieses so markierten Weges bestanden aus rissigem Lehm und Schilfrohren und schienen dereinst von Hand errichtet und mit einem Netz getrockneten Kindergedärms, vielleicht Sehnen, verwoben worden zu sein. Im Innern dieser Lehmwände krochen knochendünne Gestalten mit nicht selten tierischen Anleihen herum, pressten zu wächsernen Fratzen verzogene Gesichter, überlange Klauen und knorpelige Glieder durch das Baumaterial, als wollten sie aus ihrem Gefängnis in die Welt der Menschen entfliehen. Lautlos, träge und pausenlos fügten sie dabei den alten neue Risse und Spalten hinzu, die dieses architektonische Mysterium viel zu brüchig erscheinen ließen. Wo Laika auch hinschaute, erfassten ihre Blicke auf die Wände gemalte, in sie geritzte oder mit Meißel und Hammer hineingeschlagene Symbole, primitive Zeichnungen miteinander kopulierender Kreaturen, sowie Schriftzeichen möglicherweise längst vergessener Sprachen. Aberhunderte, wenn nicht Tausende solcher oft nur fingernagelgroßer Krakeleien und Abbildungen ergänzten sich entlang der Wände zu übergeordneten Mustern, die den Sehnerv ob ihrer schieren Vielfalt und geometrischen Absonderlichkeit betäubten. Und immer wieder die kriechenden Wesen, die ihre hässlichen Schädel durch Lehm und Schilf pressten und ihre viel zu großen Münder voll schief stehender, dolchlanger Haifischzähne zu lautlosen Schreien aufrissen.
Eine Endlosigkeit später bog der Gang brüsk nach rechts ab. Mit jedem Meter, den Laika, Skinner und Elendes Biest hinter sich brachten, verdichtete sich die spürbare Aura, und der Detailgrad und die Menge der Zeichnungen nahmen zu. Die drei bogen ein weiteres Mal nach rechts ab, wieder und immer wieder, strebten unweigerlich dem geheimnisvollen Kern dieser Spirale zu, bei dem es sich nur um das Heiligtum des Informanten handeln konnte.
Laika blieb stehen und beobachtete Skinner, wie er sich mittlerweile bei jedem zweiten Schritt schwer auf seinen Stock stützte und vorwärts schleppte. „Was ist los?“, fragte sie, wich dabei von einer viel zu langen, hässlichen Fratze zurück, die sich neben ihr durch den Lehm presste und sichtlich danach gierte, sich in ihr zu verbeißen.
„Nichts“, spielte der Illusionist die Tatsache, dass eben doch etwas los war, herunter. „Ich werde es Ihnen ein andermal erklären. Wenn wir Zeit haben.“
„Wenn es Ihnen in den Kram passt.“
Er nickte und versuchte sich in einem geckenhaften Lächeln, das gänzlich misslang, das im schwachen Schein einer der Lichtinseln grotesk und unwirklich wie die erstarrte Mimik eines Butoh-Tänzers wirkte. Seine Haut hatte eine fahle Farbe angenommen, das Kolorit der freudlosen, nackten Toten in ihren Särgen. Skinner sah verbraucht und wie am Ende seiner Tage aus – bis auf die schwelende Glut in seinen Augen, die zu einem vulkanisch heißen Feuer herangereift war.
Als wäre etwas in ihm erwacht, dachte Laika, und dieser Gedanke, der wie aus dem Nichts auftauchte, ließ sie schaudern.