STEAMPUNK-Erinnerungen an Morgen / Gunda Plewe, www.literra.info
Seit vor ungefähr drei Jahren auf dem deutschen Buchmarkt mit großem Enthusiasmus und noch größeren Erwartungen Steampunk als das kommende Genre aus der angelsächsischen Literatur willkommen geheißen wurde, hat sich viel getan. Die Spreu trennte sich vom Weizen und Schnellschüsse, hastig garniert mit einigen Zahnrädern, dampfbetriebenen Robotern und verrückten Wissenschaftlern, verschwanden wieder dort, wo sie hingehörten: in der Versenkung. Geblieben sind die Autoren und Verlage, die nicht nur einem Trend hinterherhecheln, sondern auf Qualität setzen.
„STEAMPUNK Erinnerungen an Morgen“ ist eine Anthologie, die unter der Herausgeberin Alisha Bionda fünf Geschichten plus eine Bonusstory aus der viktorianischen und dampfbetriebenen Welt versammelt.
Den Auftakt macht Guido Krain, dessen „Steam is beautiful“ mich regelrecht verzaubert hat. Der Erfinder Charles Eagleton kehrt nach dem Tod seines reichen Onkels in das Haus des Mannes zurück, der für ihn Vorbild und vom Podest gestürzter Held gleichzeitig war. Wie sich nach der Lektüre der Tagebücher herausstellt, verlor Onkel Walther den Bezug zur Realität und träumte von Experimenten, die geradezu „Wahnsinn“ schrien – oder doch nicht? Pfarrer Gilmour, ein Freund des Verstorbenen, benötigt Charles Hilfe bei der Reparatur einer geheimnisvollen Maschine, doch die Motive des Geistlichen sind düsterer, als es sich für einen Mann Gottes schickt. Wie gut, dass es Fifi gibt, das dampfbetriebene und „mehr als eine Vierteltonne“ wiegende Dienstmädchen.Fifi bringt Leichtigkeit in eine Geschichte, die durchaus moralisch ist, eine Kombination, die mir außerordentlich gut gefallen hat – Geschichten sollen unterhalten, natürlich. Aber wenn der Autor auch noch etwas zu sagen hat, das über den reinen Unterhaltungswert hinausgeht, ist das natürlich viel nachhaltiger und schlicht auch schöner. Die Moralkeule wird hier nicht geschwungen, keine Sorge! Die Frage danach, wie weit man in der Gier nach mehr Geld, mehr Macht und Einfluss zu gehen bereit ist, war und ist an kein Zeitalter gebunden, ebenso wie die Frage, ob Maschinen ein Bewusstsein ihrer selbst haben.
„Steam is beautiful“ ist gehaltvoll, unterhaltsam, elegant in der federleichten Erschaffung einer Atmosphäre, die geschickt mit der Erwartungshaltung des Lesers spielt. Es gibt bekannte Versatzstücke, die viel zur viktorianischen Stimmung beitragen, aber eben auch sehr viel Eigenes. Die Geschichte ist der Prolog zum Roman „Argentum Noctis“, der in Bälde erscheint und den ich hoffentlich bald komplett verschlingen kann.
Bernd Perplies steuert mit „Der Automat“ die zweite Geschichte bei. Spätestens seit seiner wunderbaren „Magierdämmerung“ – Trilogie weiß man, wie souverän er das Geschichtenerzählen beherrscht, und auch diese Geschichte enttäuscht nicht. Die Hauptfigur in der kurzen Erzählung ist ein Auftragsmörder, der seinen Beruf kalt und erbarmungslos ausübt. Es gibt für ihn nur zwei Regeln, die niemals verletzt werden: keine Frauen, keine Kinder. An einem trüben Herbsttag wird ihm ein Mord angetragen, der den Rahmen des Üblichen sprengt. Ein reicher Industrieller bittet ihn, „dieses künstliche Ungeheuer, diese Lästerung Gottes in Menschengestalt“, aus dem Weg zu schaffen. Als feststand, dass sie kinderlos bleiben würde, hatte seine Frau den Ingenieur Giuseppe Collodi um Hilfe gebeten und ihren perfekten Sohn, ein Maschinenkind, erhalten. Der Attentäter nimmt den Auftrag an – wer wäre er, die Motive eines Auftraggebers zu hinterfragen? Doch das Kind, die Maschine, ist nicht mehr im Hause, und der gewissenhafte Attentäter macht sich auf die Suche, um seinen Auftrag ordnungsgemäß zu Ende zu führen. Die Suche nach dem Kind wird jedoch zu einer Reise der besonderen Art für den herzlosen Mörder.
Auch diese Geschichte ist stilistisch sehr gut, spannend und stimmungsvoll. Hier dominiert die düsterste Melancholie in jeder Zeile das Geschehen, und wie der Herbstabend, an dem die Geschichte beginnt, wird die durch und durch kühle Geschichte nur ab und zu von einem Anflug von Wärme unterbrochen.
Sören Preschers Beitrag zur Anthologie ist ebenfalls Teil eines größeren Projekts, in diesem Fall des Steampunk-Romans „Der Flug des Archimedes“, der im Sommer 2013 bei Fabylon erscheinen wird. Von Sören Prescher habe ich zuletzt sein Gemeinschaftswerk mit Tobias Bachmann „Sherlock Holmes taucht ab“ genossen, und da mir diese gelungene Mischung aus Sherlock-Holmes-Hommage und Fantastik außerordentlich gut gefiel, waren meine Erwartungen naturgemäß recht hoch. Die Geschichte, der die Anthologie ihren Titel verdankt, beginnt vielversprechend mit der Einführung Henry Curtons, der seinem einflussreichen Vater die Praktikantenstelle am St. Thomas Hospital in der Abteilung für Geisteskrankheiten verdankt. Die Verbohrtheit seiner Vorgesetzten und die veralteten Behandlungsmethoden sind nur zwei Gründe, Henrys Forscherdrang ins Unermessliche wachsen zu lassen. Wir begleiten den einzelgängerischen Arzt eine Zeit lang in seinem beruflichen und privaten Leben. Mit der Entdeckung des Mesmerismus öffnet sich eine neue Welt für den begeisterten Forscher, dessen Entdeckerdrang in einem Experiment mündet, das nicht nur sein eigenes Leben beeinflussen wird, sondern auch auf geheimnisvolle Weise Einfluss auf die Zukunft nimmt.Ich gestehe, ich liebe diese düsteren, klischeehaften Settings, wenn sie nicht überreizt werden – eine Irrenanstalt im viktorianischen London als Ort der Handlung ist für mich als Einstieg in eine Geschichte so unwiderstehlich wie … bleiben wir klischeehaft … Schokolade.
Sören Prescher verfügt als Schriftsteller über genügend Erfahrung, mit Klischees zu spielen und sie so zu variieren, dass der Leser neugierig Seite um Seite liest. Sprache und Spannungsbogen lassen nichts zu wünschen übrig. Auch hier gilt: ich freue mich sehr auf den kompletten Roman!
„Varieté d ´Immortal“ von Tanya Carpenter entführt den Leser in die Welt von Edward Stone. Vom Vater wegen seines unbändigen Wissensdranges gedemütigt, findet er einen Freund im Magier und Illusionisten Francois Dumont. Der Direktor des Varietés wird zum Förderer von Edwards Studien, doch zehn Jahre später fordert Dumont die Begleichung alter Schulden auf die grausigste Art.Tanya Carpenters Erzählung hätte gerne länger sein dürfen, denn sie erzeugt durch die üppige und plastische Beschreibung ihrer Charaktere einen Sog, dem ich mich allzu gerne hingab, ähnlich wie Edward den Verlockungen des Varietés. Die Verzauberung, die Edward während seines ersten Besuchs dort erlebt, und die nachfolgende Desillusionierung sind wunderbar beschrieben, ebenso wie das rauschhafte Finale.
Auch diese Geschichte könnte ich mir in Romanform vorstellen, verführerisch und unheimlich gleichzeitig.
„Bringen Sie uns den Kopf von Abu Al-Yased“ ruft Klaus-Peter Walter mit dröhnender Stimme dem Leser zu, der ihm willig in eine wilde, anspielungsreiche Piratengeschichte folgt. Tagespolitisch aktuelle Themen und religiös motivierte Handlungen werden geschickt mit einer wirklich atemlos anmutenden Jagd auf einen Terroristen verknüpft. Wer die Holmes-Pastiches von Klaus-Peter Walter gelesen hat, der weiß, dass bei diesem Autor weder das Ende noch die Handlungen vorhersehbar sind und das Abenteuer nicht auf den bedruckten Seiten bleibt.
Von Andreas Gruber hatte ich noch nichts gelesen und war entsprechend gespannt. „Der Maya-Transmitter“ heißt die Bonusgeschichte aus seiner Feder. Die verschollene Anderson-Expedition kostete den Teilnehmer, der wegen eines Unfalls nicht an ihr teilnehmen konnte, die Liebe einer Frau, seine Gesundheit und seine akademische Position. Sieben Jahre später muss er unter allen Umständen wissen, was damals geschah. Bewegend und – wie alle Beiträge- sehr gut geschrieben, war ich nicht nur in London, sondern auch in einer versunkenen, alten Kultur zu Gast.
FAZIT:
"STEAMPUNK-Erinnerungen an Morgen" ist eine Anthologie von hoher Qualität und ebenso hohem Unterhaltungswert. Einsteiger und Experten des Genres werden ihr Vergnügen an jeder einzelnen Erzählung haben, und die Innengrafiken von Crossvalley Smith verstehen es, den Geist der einzelnen Geschichten einzufangen und den Band zu bereichern.