Leseprobe: Dilara auf den Spuren ihrer Vergangenheit!

Guardian spürte Dilaras und Calvins Anwesenheit in dem Moment, als sie hinter ihm verharrten. Sie waren ihm also doch gefolgt. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Guardians Überraschung hielt sich daher in Grenzen. Auch sein Unwillen. Denn irgendwann hätte er sich Dilara – Calvin zählte für ihn nicht, er war nur ein lästiges Anhängsel der Vampirin – ohnehin offenbaren müssen.
Warum nicht jetzt?
„Es ist noch zu früh“, flüsterte Guardian vor sich hin. Er hatte noch eine Rechnung offen – mit Antediluvian. Und genau da konnte Dilara eine entscheidende Rolle spielen. Wenn er es geschickt anstellte. Doch nun schien sie durch ihr Auftauchen seine Pläne, die nichts mit seiner Mission gemein hatten, zu durchkreuzen.
„Was murmelst du da?“ fragte Calvin aufsässig.
Guardian warf ihm einen eisigen Blick zu. Die beiden Männer fochten ein stummes Blickduell aus, aus dem keiner als Sieger hervorging, weil sich Dilara einschaltete.
„Was hat das hier alles zu bedeuten, Guardian?“ Sie deutete auf die Wand, vor der er immer noch kniete.
Guardian erhob sich mit einer fließenden Bewegung und richtete sich zu voller Größe auf, wohl auch um Calvin, den er nun wieder überragte, seine Macht zu demonstrieren.
Doch Calvin hatte nur Augen für etwas anderes.
Er schob Dilara bestimmt zur Seite und trat an die Schädelwand heran, tastete sie beinahe andächtig ab. „Der Schrein“, murmelte er. „Der Schrein in Antediluvians Reich hatte auch diese Schädelwand.“ Calvin drehte sich zu Guardian herum und legte all das Mißtrauen, das in ihm war, in seinen Blick. Irgend etwas stimmt mit diesem Schönling nicht, dachte er.
„Ich möchte Dilaras Frage wiederholen: was hat das zu bedeuten?“
Mit Genugtuung registrierte er, wie sich Guardian wand, sich vor einer Antwort zu drücken anschickte, als mit Dilara eine Veränderung vor sich ging.
Wieder erhielten ihre Gesichtszüge einen älteren, gleichzeitig härteren, aber noch reizvolleren Ausdruck. Ihr Blick wurde starr, verlor sich irgendwo im Raum... und in der Zeit. Hochaufgerichtet drehte sie sich zu der Schädelwand herum, vor der Calvin immer noch stand. Sein Blick suchte den ihren, um Nähe zu ihr zu erzeugen, doch sie sah durch ihn hindurch. Er versuchte, telepathisch mit ihr Kontakt aufzunehmen, zog sich aber erschrocken vor dem Wirrwarr ihrer Gefühle und Visionen, die in ihr kämpften, zurück.
„El Templo Mayor.“ In Dilaras Stimme schwang erkennbar Sehnsucht. „El Templo Mayor“, wiederholte sie, und es klang wie eine Beschwörung.
Erst jetzt bemerkte Calvin, daß ihre ohnehin schon anregende Stimme noch dunkler und rauchiger geworden war. Und nicht nur mit ihr ging eine Veränderung vor sich, auch Guardian blieb nicht davon verschont. Er alterte wie im Zeitraffer in Sekundenschnelle, die Haut platzte auf, das Fleisch löste sich von seinem Schädel und Körper, und die Haare fielen ihm aus. Alles zerfiel augenblicklich zu Staub, der mit einem plötzlich an ihnen vorbeiziehenden Lufthauch fortgewirbelt wurde.
Calvin starrte Guardian, oder das, was noch von ihm übrig war, an. Dessen Schädel glich nun jenen, aus denen die Mauer errichtet worden war.
„Der Große Tempel...“, erhob nun Dilara wieder die Stimme, die fest und befehlsgewohnt klang, „... fordert neue Opfer!“
Ein Tempel, der Opfer forderte? Calvin schüttelte den Kopf. So ein Unsinn, hätte er beinahe laut hervorgepreßt, Götter und Könige fordern Opfer, aber keine toten Steine! Aber er war viel zu beeindruckt und gefangen von der Szenerie, die sich vor ihm abspielte, um auch nur ein Wort hervorzubringen. Sein suchender, unsteter Blick glitt weiter über die Schädelwand, verlor sich, ebenso wie Dilaras Blick zuvor, im Raum... und er erstarrte. Die Wand gehörte zu einer Pyramide, die sich hoheitsvoll bis ins Nichts vor ihm erhob. Düster und gewaltig erinnerte sie ihn an manche Abbildung, die sie in der Aztekenausstellung gesehen hatten. Calvin konnte sich nicht erklären, warum, aber er dachte gerade in diesem Moment an den Glauben der Azteken, daß das Universum aus dem Kampf zwischen Licht und Dunkelheit entstanden war.
Licht und Dunkelheit, dachte Calvin, sie bestimmen auch unser Dasein.
Sonne und Mond – Licht und Dunkelheit...
Er brachte den Gedanken nicht zu Ende, weil plötzlich Bewegung um ihn herum entstand.
Vier Priester schritten würdevoll herbei. Sie führten einen jungen Mann mit langem, schwarzem Haar, der einen apathischen Eindruck machte, in ihrer Mitte.
Die Priester blieben in adäquatem Abstand vor Dilara stehen und verneigten knapp ihre Häupter. Eine Respektbekundung, die Calvin sonderbar anmutete, die Dilara aber huldvoll entgegennahm, und die sie ihm noch fremder machte.
Sie beachtete weder ihn noch Guardian, der jetzt auf das Opfer zuschritt.
Zuklapperte, wie Calvin hämisch dachte, denn seine langen, knochigen Beine hatten an Geschmeidigkeit verloren.
„Bringt mir sein Herz!“ befahl Dilara, und ihr Mund verzog sich zu einem grausamen Strich.
Das Opfer wurde – nackt, nur mit einem Lendentuch bekleidet und mit roten und weißen Längsstreifen bemalt – die stufenförmige Pyramide hinaufgeführt.
Dicht gefolgt von Guardians grotesker Knochengestalt.
Oben angekommen, hielten die Priester ihr Opfer an Armen und Beinen fest und streckten es auf einem Steinblock, der als Altar diente, aus. Der grobe Opferstein aus heiligem Vulkangestein maß eine halben Meter Höhe.
Warum wehrt sich der Kerl nicht?, durchzuckte es Calvin beim Anblick des ruhig daliegenden Mannes. Besonders, als Guardian ein Steinmesser aus seinem nun um seinen skelettierten Körper schlotternden Gewand zog und damit auf sein wehrloses Opfer zuschritt.
Der junge Mann stieß nun doch einen schrillen Schrei des Entsetzens aus.
Es sollte sein letzter sein.
Guardian führte geschickt einen schnellen Längsschnitt über die Brust durch und durchtrennte Brustbein und Rippen.
Als wenn er durch Butter führe, durchschoß es Calvin, als ob der Kerl das täglich machen würde. Eine Ahnung erwuchs in ihm, daß er mit seiner Vermutung nicht völlig falsch lag.
Guardian riß seinem zuckenden Opfer derweil das noch pulsierende Herz mit einem schnellen Ruck heraus und hielt es triumphierend mit beiden Händen in die Höhe, legte es dann in eine kunstvoll gearbeitete Adlerschale, ergriff diese mit beiden Händen und schritt die Stufen der Pyramide hinab. Die Priester hatten das Blut des Opfers in weiteren Schalen aufgefangen und tränkten damit die Götterstatuen, die um den Altar herum standen.
Calvin war außerstande, sich zu bewegen. Gebannt verfolgte er die blutige Zeremonie. Sein Blick schweifte zu Dilara, die fremd und schön vor ihm stand. Fünf junge Tempeldiener knieten zu ihren Füßen. Calvin hielt den Atem an. Nie hatte sie so faszinierend auf ihn gewirkt wie in diesem Moment. Er mußte an den Tag auf dem Portobello-Markt denken, als sie an seinen Buchstand getreten war und ihn gebeten hatte, ihr einen Band über die Blutopfer der Azteken zu besorgen.
Blutopfer, dachte Calvin versonnen...
... der Kreis begann sich zu schließen!
Das Geschehen hielt ihn weiter in seinem Bann. Calvins Blick richtete sich wieder auf die Pyramide.
Guardian hatte mittlerweile die Stufen hinter sich gelassen und blieb vor Dilara stehen.
Die Vampirin beugte sich triumphierend über die Schale, nahm das noch warme Herz in ihre Hände, entblößte mit einem schrillen Schrei ihre spitzen Zähne und biß in das Herz hinein... verspeiste es mit sichtlichem Genuß. Ohne Hast und mit einer Mischung aus Gier und Würde, die Calvin faszinierte. Das schillernde Grün ihrer leuchtenden Augen richtete sich dabei auf ihn.
Was er darin las, ließ ihn erschaudern.
Calvin stieß einen Laut des Entsetzens aus und ergriff mit beiden Händen das Amulett um seinen Hals, murmelte unverständliche Worte.
Und die Vision ließ ihn wieder frei.