Leseprobe: Ausschnitt aus der Kurzgeschichte EUPHORIA von Ascan von Bargen

Wisse, oh Prinz – ihren wahren Namen hat kein Sterblicher jemals in Erfahrung gebracht.
Und vielleicht ist es auch besser so, wer vermag das schon zu sagen? Denn zwar habe ich im Laufe meines Lebens Kenntnis erlangt von Dingen, an die man besser nicht rühren sollte. Von Mysterien, die vom Anbeginn der Zeiten weder für Augen noch Ohren irgendeines menschlichen Wesens bestimmt waren. Verbotene Geheimnisse, stillschweigend den Abgründen des Vergessens anheimgegeben – von Frevlerhänden dem Geisterreich jenseits des schwarzen Schleiers entrissen.
Doch um welchen Preis.
Nun, da das unabwendbare Gericht naht, will ich dir unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauen, wie ich mich ihr das erste Mal von Angesicht zu Angesicht gegenüber sah. Unter welchen Umständen und an welchem Ort dies geschah. Das schleichende Verhängnis, das mir aus den hitzeflirrenden Gassen von Marrakesch bis hierher gefolgt ist, zwingt mich dazu, meine Worte rasch und schlicht zu wählen. Man muss die Wahrheit klar und ohne unnützen Zierrat zu Papier bringen. Es bleibt ohnehin nicht mehr viel Zeit, bis ich das Schicksal der Haschischfresser teile und sich mein Geist vollends verwirrt und in den brodelnden Untiefen des in mir aufsteigenden Wahnsinns verloren haben wird. Die wenigen wachen Augenblicke, die mir jetzt noch bleiben, will ich nutzen, um die Bilder meiner Erinnerung noch ein letztes Mal wachzurufen und somit gleichsam in der Zeit zurückzureisen. Bis in jene sonnendurchfluteten Tage meiner Jugend, als mir jedwedes Grauen, jede noch so vage Vorstellung des Abgründigen und Unaussprechlichen noch gänzlich fremd gewesen ist. Es waren dies die vielleicht glücklichsten Jahre meines Lebens. Leicht und unbeschwert. Unbefleckt durch jenes unheilige Wissen, das schließlich die verschlossenen Pforten meiner Seele wie meines Geistes weit aufstieß, und mir Einblicke in verborgene Sphären ermöglichte, an denen die menschliche Vorstellungskraft mit unausweichlicher Konsequenz zerschellen muss. Denn wisse, oh Prinz, jene namenlosen Mächte, die in den Tiefen lauern, liegen nicht grundlos eingekerkert. Wehe dem, der es wagt sich ihnen zu nähern. Und um wie viel mehr, jenem, der es wagt, sich ihnen unvorbereitet zu nähern; oder sie gar zu entfesseln.
Ich war unvorbereitet, als mein Weg mich schließlich zu ihr führte.
Hierher. An den Ort, an dem alles seinen Anfang nahm.
Den Ort der Flammen und der schreienden Bilder.
Hierher, ins Reich des gemarterten Fleischs.
Auf ihre Insel inmitten eines Feenreichs am Meer.
In die tödliche Umarmung der Blutsäufer.
Bis hierher, nach Ravenna.
Denn dort begann mein Untergang.


An der Stelle, wo die leuchtend grünen Hänge der Emilia-Romagna steil ins Meer abfallen, erhob sich in jenen Tagen ein herrschaftliches Anwesen. Erbaut aus weißem Marmor, der leuchtend aus dem dunklen Grün der Baumwipfel hervorstach und dreimal am Tag seine Farbe veränderte. In den frühen Stunden erschien die Villa in kühlem Blau, wenn die Schatten der Morgendämmerung heraufzogen. In der Mittagsglut erstrahlten die meterhohen Mauern in makellosen Elfenbeinfarben, und bei Sonnenuntergang überzog ein rotes Glühen die imposante Fassade mit all seinen verspielten Erkern, Ballustraden und Türmchen. Ein Glühen, das sich immer mehr dem Farbton geronnenen Blutes annäherte, je weiter die Sonne im Meer versank.
Zum ersten Mal im Leben erblickte ich das mittelalterliche Bauwerk, das auf einer felsigen Landzunge weit ins Wasser hineinragte, als das unheilverkündende Glosen des Sonnenuntergangs die norditalienische Landschaft mit gleißendem Feuerschein überzog. Unvermittelt schlichen sich nie gekannte Gedanken hinter meine Stirn. Leise Geisterstimmen, die mir von dämonischen Dingen wisperten. Argwöhnisch betrachtete ich den wuchtigen Koloss, der sich am Ende eines Serpentinenpfads, dort auf der Kuppe des Hügels, wie ein schillernder Blutrubin in den Himmel emporstreckte.
Das herrschaftliche Bauwerk, das von Ravenna bis zum Schwarzen Fluss überall nur als Villa de Angeli bekannt war, war in Wirklichkeit ein beeindruckendes, wehrhaftes Kastell aus längst vergangenen Zeiten.
Und während ich mein Pferd nun am Zügel führte, über den mäandernden Kiesweg, der uns ins Zwielicht majestätischer Pinien und Kiefern lockte, vorbei an den weitläufigen Parkanlagen voller prachtvoller Marmorstatuen, dachte ich noch einmal über den Grund meiner Anwesenheit hier nach. Ein Brief meines alten Studienfreundes Marcello hatte mich augenblicklich dazu bewegt, die lange Reise auf mich zu nehmen. Denn die Wortwahl und der Tonfall seines Schreibens ließen keinen Zweifel daran, dass er sich in höchster Not befand und dringend des Beistands eines Freundes bedurfte, wenngleich er merkwürdiger Weise auch betonte, ich solle ihn bitte nicht direkt auf das Einladungsschreiben ansprechen. Diesen Wunsch würde ich natürlich respektieren, da ich annehmen musste, dass er damit auf das stumme Leiden anspielte, das ihn offenbar seit geraumer Zeit so sehr peinigte.
Marcello und ich – wir hatten uns von Kindheitstagen an gekannt, später gemeinsam die Schule besucht und schließlich einige Jahre in Bologna verbracht, wo wir studiosi der Universität wurden, ehe sich unsere Wege trennten. Denn sein Weg war von klein auf vorgezeichnet gewesen, wohingegen mir alle Freiheiten und Möglichkeiten zur Entscheidung gegeben waren. Wenigstens hatte ich mir das damals eingebildet.
Marcello indes entstammte einem alten italienischem Adelsgeschlecht, dessen Erbe er antreten würde, und dessen zahlreiche Güter er in seine Hände zu nehmen hatte.
Nun, da ich aus dem Sattel meines Pferdes gestiegen war, um es das letzte Stück aufwärts bis zur Villa am Zügel zu führen, erinnerte ich mich an diese lang vorbeigestrichenen Tage. Damals war es mir als Außenstehenden als großer Segen erschienen, über so viele Ländereien und schier unbegrenzte Reichtümer verfügen zu können. Und die Möglichkeit zu haben, stolz auf eine ununterbrochene Kette an Vorfahren in gerader Linie zurückzublicken. Denn die Familie de Angeli, der Marcello entstammte, folgte, wie es die Tradition vorgab, einem strengen Codex des Blutes. Und die ruhmreiche Blutlinie war, so hatte er mir in Bologna anvertraut, niemals unterbrochen oder – noch schlimmer – „verwässert“ worden, auch wenn ich niemals wirklich begriffen hatte, was damit eigentlich gemeint war. Ein Umstand, der sich unter anderem darin zeigte, dass jedes Mitglied der de Angeli-Familie ein bestimmtes Muttermal auf dem rechten Schulterblatt trug. Ein Muttermal in Form eines Halbmonds, auf das Marcello mir eines Tages einen Blick gewährt hatte.
Tatsächlich hatte mich in jenen Tagen für eine Weile ein grünes Gefühl erfasst, dessen ich mich jedoch aufrichtig schämte. Damals freilich besaß ich noch nicht den Weitblick auch zu verstehen, dass ein solcher Segen, wie er Marcello zuteil wurde, wenn nicht einen Fluch, so doch zumindest eine ungeheure Bürde bedeutete, die nicht jedermann imstande war, zu tragen. Was wusste ich junger Narr denn damals schon von den Dingen des Lebens? Keine Vorstellung machte ich mir davon, wie viele seiner Vorfahren bereits unter der schier übermenschlichen Last, die ihre Familie ihnen auferlegt hatte, zerbrochen und zugrundegegangen waren. Und wie es schien, fehlte nun nicht mehr viel, bis schließlich auch Marcello an die Grenzen seiner Kräfte stoßen würde. Sein Brief hatte eine deutliche Sprache gesprochen. Nach mehr als zwanzig Jahren nun sollte ich meinen alten Weggefährten endlich wiedertreffen. Wenn auch die Umstände unseres Zusammentreffens äußerst düster sein sollten. Dennoch hoffte ich aufrichtig, ihm etwas Aufmunterung und Unterstützung bieten zu können, denn die langen Jahre in der Einsamkeit des verwaisten Kastells schienen ihn auf absonderliche Weise schwermütig gemacht zu haben.


Sichtlich von Freude und Stolz erfüllt, hieß Marcello mich in der Villa de Angeli willkommen. Allerdings vermied er es, wie mir auffiel, mir die Hand zu reichen, geschweige denn, mich zu umarmen. Ich hingegen versuchte, mir das Grauen nicht unmittelbar anmerken zu lassen, mit dem mich sein Anblick erfüllte. Der lebensfrohe, hochgewachsene junge Mann, den ich einst in Bologna gekannt hatte, war zu einem Schatten seiner selbst verkommen. Knochig sein Gesicht, das ehemals dichte, schwarze Haar umwehte das hagere Antlitz wie bleiche Spinnenweben und die Augen lagen tief in die Höhlen eingesunken. Fiebrig glänzend, was seinem gebeugten, gnomartigen Äußeren einen zusätzlichen Ausdruck der Hässlichkeit verlieh, der auf mich regelrecht Furcht erregend wirkte. Beinahe so, als hätte sich etwas Anderes, Unheimliches seiner sterblichen Hülle bemächtigt und in dieses abscheuliche Etwas verwandelt, das nur mehr entfernt an den Marcello de Angeli erinnerte, den ich einst gekannt hatte.
„Du siehst mich an“, sagte er plötzlich, „als sei dir soeben ein Gespenst begegnet.“
Ich rang mir mühsam ein Lächeln ab, das zweifellos gequält ausfiel. Mit vorsichtigen Worten versuchte ich mich ihm zu erklären.
„Ich verstehe dich gut, mein Freund“, erwiderte er und nickte mir verständnisvoll zu. „Es ist das Leiden, eine geheimnisvolle Malaise, die nur innerhalb meiner Familie von Generation zu Generation weitervererbt wird.“
Begierig darauf, mehr über diese namenlose Krankheit zu erfahren, die ihre erbarmungslose Krallen in ihn geschlagen hatte, lenkte ich das Gespräch wieder darauf. Und so beschrieb mir Marcello mit knappen Worten, durch welche Symptome sich sein Gebrechen äußerte:
Schon als Kind war er sehr kränklich und blass gewesen. Es habe irgendetwas mit der Blutlinie zu tun, in der die de Angelis gefangen waren. Doch als junger Mann war er von stattlicher Statur, beinahe schon von athletischer Physis gewesen. Erst später, nachdem sich die Krankheit seines Blutes schleichend weiterentwickelt hatte, hatten die Schmerzen, die sie ihm unentwegt verursachte, ihn zu beugen vermocht. Sein Körper degenerierte von Tag zu Tag.
Mit Fortschreiten des Verlustes seiner Kräfte jedoch, trat ein weiteres, verstörendes Phänomen auf – seine Sinne schärften sich in einem Grade, die beinahe ans Übernatürliche grenzte. Daher also hatte er mich von Anfang an gebeten, mit ihm nur ihm Flüsterton zu reden und sämtliche lauten Geräusche zu vermeiden. Und daher also auch die zahlreichen Läufer und Teppiche auf dem Boden, die jeden unserer Schritte zur Lautlosigkeit abdämpften.
Doch auch Augen und Geruchssinn hatten sich verändert. Zwar brachte es manches Mal Vorteile mit sich, auch in der Dunkelheit fast so gut wie am Tage sehen zu können, dafür aber verursachte ihm das grelle Licht des Tages entsetzliche Pein. Aber was den Geruchssinn anbelangte – tatsächlich lächelte er bei diesen Worten –, könne er gut darauf verzichten manche Gerüche nun verstärkt wahrnehmen zu müssen. Am Schlimmsten jedoch sei der überfeine Tastsinn.
Seit dieser sich durch den unaufhaltsamen Fortschritt der Krankheit, die früher oder später zweifellos zu seinem Tod führen würde, über die Maßen verstärkt habe, sei er gezwungen, nur leichte Stoffe auf der Haut zu tragen, was gerade während des Winters keine angenehme Sache sei. Bereits ein einfacher Händedruck oder jede andere Form einer körperlichen Berührung, führten dazu, dass ihm unerträgliche Schmerzen durch die überreizten Nervenbahnen gejagt wurden. Mit Ausnahme seiner Männlichkeit, die zum Glück von diesem Schmerz nicht beeinträchtigt wurde.
Bei diesen Worten bedachte er mich mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck und ich verstand, dass er für die zurückhaltende Begrüßung um Verzeihung bitten wollte.
„Wie ich hoffe, wirst du von nun an einige Zeit bei mir bleiben, und mir Gesellschaft leisten“, sagte er schließlich.
Ich bewunderte indes erstaunt und fasziniert die zahlreichen Gemälde der Galerie, die mir von lebensechter Intensität erschienen. Vor allem die Farbe der Lippen der Portraitierten wirkte so täuschend echt, als wären es keine bloßen Abbilder längst verstorbener Personen, sondern vitale und wirklich durchpulste Menschen.
Mit unverhohlenem Stolz zeigte de Angeli mir das Portrait seiner verstorbenen Mutter, ehe wir weitergingen.
Da hörte ich unvermittelt ein merkwürdiges Geräusch. War es ein qualvolles Stöhnen, ein Laut tiefster Agonie, der da an mein Ohr gedrungen war? Oder hatte mich der Wind zum Narren gehalten? Mit zielstrebigen Schritten hielt ich auf die Tür am Ende der Galerie zu. Ich hatte mir eingebildet, dass die Geräusche dahinter erklungen waren. Doch gerade in der Absicht begriffen, sie zu öffnen, trat Marcello hastig herbei. Eine Spur zu hastig vielleicht. Er verschloss sie augenblicklich wieder vor mir, indem er den Schlüssel heftig herumfahren ließ, mir versichernd, dass ich mich wohl getäuscht haben müsse, er hätte nichts dergleichen wahrgenommen, und dann auf eine andere Tür deutend, durch die wir nun hindurchgingen.
„Nun, was sagst du? Du hast meine Frage nicht beantwortet“, sagte er dann.
Ich zuckte zusammen und versicherte rasch: „Selbstverständlich. Solange wie du meine Anwesenheit hier wünschst, werde ich natürlich gerne bei dir bleiben.“
Er lächelte in sich hinein, so als habe er im Grunde auch mit keiner anderen Antwort von mir gerechnet.
Wir schritten eine Treppe in die oberen Gemächer empor, als er plötzlich zu mir sagte: „Ich möchte dir jemanden vorstellen.“
„So?“ Ich war überrascht. Bis zu diesem Augenblick war ich der festen Überzeugung gewesen, er lebe hier vollkommen allein und isoliert vom Rest der Welt. Mit Ausnahme einiger Dienstboten und Mägde vielleicht. Meine Neugier war erwacht. „Und, wer ist es?“, hakte ich rasch nach.
„Euphoria“, gab Marcello de Angeli zurück. Und ein verträumter Ausdruck schlich sich in seinen Blick.

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