Leseprobe: Die Moorleichen

Nebel waberte um sie herum. Zerrte erbost an ihnen. Aber sie setzten sich zur Wehr. Wie schon seit der Ewigkeit, in der sie sich in der tödlichen Umklammerung des Moores befanden. Sie hatten Hunger. Nach Leben, warmem Fleisch und Blut. Sie kämpften sich aus den schwarzen Massen des Faulschlammes, der schmatzende Geräusche von sich gab, empor. Der sie enttäuscht freiließ. Für eine weitere Nacht. Es trieb sie in die Nähe des Dorfes, in dem alles begonnen hatte. Wie zwei grotesk verzerrte Schatten flossen sie an das erste Haus heran, durchdrangen mit Leichtigkeit dessen Wände und durchwanderten ruhelos die Räume. Bis sie das Zimmer fanden, in dem ihr Lebenselixier schlummerte: das Kind. Eines der Ur-Ur-Ur-Enkel ihrer einstigen Verfolger. Ihre schlammigen Hände griffen nach dem Jungen. Erstickten den erschrockenen Schrei, der aus dessen Kinderkehle dringen wollte...

Über die Moorleichen sprach seit Urzeiten jeder im Dorf. Um sie rankten Geschichten und Gerüchte, die von Jahr zu Jahr monströser und blutiger wurden. Genährt auch dadurch, dass in jedem Jahr Menschen des Dorfes und der Umgebung spurlos verschwanden. Nach außen hin glaubte keine Menschenseele an die Geschichte. Wenn jedoch die Dämmerung den Tag einhüllte, setzte niemand mehr einen Fuß in das Hochmoor. Kolja fragte sich schon lange, ob die Moorleichen und ihre Geschichte nicht erfunden waren. Allzu oft hatte ihm sein verstorbener Großvater davon erzählt. Und jedes Mal die Handlung mit anderen Details geschmückt. Das hatte Kolja, je älter er wurde, stutzig gemacht. Auch andere Dorfbewohner konnten sich nicht auf eine Version der Geschichte beschränken, sondern zauberten immer wieder andere Varianten aus dem Ärmel. Nur in einem Punkt unterschieden sie sich nicht: Es war die Geschichte einer unglücklichen Liebe zwischen zwei Menschen verfeindeter Familien. Die Geschichte der Liebenden, die keinen Ausweg mehr fanden und "ins Moor gingen”. So pflegten es die Alten mit einem Seufzen zu formulieren. Koljas blühende Fantasie hatte gleich eine eigene Geschichte darum gesponnen. Die ihn ebenso wenig zufriedenstellte wie die anderen, die er seither gehört hatte. So beschloss er an einem schönen Sommertag, der Sache auf den Grund zu gehen.
Jessica, seine Freundin, schüttelte nur den Kopf, als er sie in seine Pläne einweihte. "Was soll das alles? Nach so vielen Jahren! Lass’ ihre Seelen endlich ruhen!”, riet sie ihm eindringlich.
Kolja wusste, dass Jessica den Geschichten im Dorf nur ein Kopfschütteln abgewinnen konnte. Sie war der unumstößlichen Meinung, man solle Tote ruhen lassen. Auch ihr Glaube verbot ihr, an den blasphemischen Äußerungen teilzuhaben, man hätte die Moorleichen bei Nacht herumwandeln sehen.
Auch ihre Einwände konnten Kolja nicht hindern. Bereits Wochen später hatte er erstaunlich viel über das Liebespaar herausgefunden. Das Zeitungsarchiv der nahe gelegenen Großstadt hatte sich als wahre Fundgrube bei seinen Recherchen entpuppt. Und so wusste er schon bald mehr über die Moorleichen.
Die Bewohner des Dorfes waren seit Anbeginn durch zwei Familien-Clans bestimmt gewesen, die tief verfeindet waren. So erfüllte es die beiden Oberhäupter mit Zorn, als sie feststellten, dass sich zwei ihrer Kinder ineinander verliebten. Sie ließen nichts unversucht, die Liebenden zu trennen. Doch es gelang ihnen nicht. Alle Drohungen und Strafmaßnahmen blieben ohne Erfolg. Unglück zog über das Dorf. Seltene Krankheiten suchten die Bewohner heim, Kaltwetterfronten zerstörten die Ernten und wilde Tier rissen ihre Herden. Der Grund war schnell gefunden: Es konnte nur mit den Liebenden zusammenhängen. Fortan wurden sie beobachtet. Konnten keinen Schritt vor den anderen setzen, ohne misstrauisch beäugt zu werden. Küssten sie sich und fuhr nachts darauf der Blitz in ein Haus ein, so war das für die Dorfbewohner ein weiteres Zeichen, dass die Liebenden Unglück brachten. Doch die standen auch das durch. Bis sie immer mehr Hass und Wut der Dorfgemeinschaft auf sich zogen. An dem Tag, als sie eine gemeinsame Hütte am Dorfrand bezogen, zerstörte ein Feuer große Teile des Dorfes. Und die Bewohner kannten nur zwei Schuldige: die Liebenden, die es augenblicklich zu bestrafen galt. Eine regelrechte Treibjagd auf sie entbrannte. Ohne Gnade wurden sie aus ihrer Hütte getrieben und wie Freiwild aus dem Dorf gehetzt. Verzweifelt liefen die Liebenden in das Moor. Das feindselige Dunkel der Nacht verschluckte sie schon bald. Die Reiter folgten ihnen nicht mehr. Aus Furcht, ihre Pferde zu verlieren. Oder gar selbst Opfer des tückischen Schlammes zu werden. So sahen sie nicht, wie die junge Frau strauchelte, der nebelkrallige Faulschlamm nach ihr griff und sie hinabzog. Sie hörten nicht ihre Schreie, die immer leiser wurden und in dem Augenblick verstummten, als sich der schlammige Knebel in ihren Mund legte. Als auch ihre letzte Fingerkuppe von der erdigen Umklammerung hinabgezogen wurde, atmete ihr Liebster, der tatenlos zusehen musste und nicht ohne sie leben wollte, tief durch und ließ sich ebenfalls in das feuchte Grab sinken. Nicht ohne zuvor einen Fluch über das Dorf und dessen Bewohner zu verhängen.

In ihnen war wieder Unruhe. Doch dieses Mal war sie anders. Ambivalenter. Es war wieder Zeit, sich neuen Lebens zu bemächtigen, aber es drohte auch Gefahr. Die Gefahr entdeckt zu werden. Sie mussten auf der Hut sein. Der Mann, der ihnen auf der Spur war, war gerissen. Er war nicht so einfältig und gottergeben wie die anderen Bewohner des Dorfes. Aber genau DAS war auch ihr Chance. Sie durften ihn nicht vernichten. Sie mussten ihn auf ihre Seite ziehen. Ihn zu ihresgleichen machen. Doch das war schwer. Sehr schwer. Dieses Mal holten sie sich den Enkel des Dorfschmiedes. Sie gingen wieder schnell und lautlos vor. Nahmen den Jungen mit in ihr dunkles Grab. Aber die Vitalität, die sein Leben ihnen schenkte, machte sie nicht wie sonst zufrieden. Nicht ruhig. Sondern steigerte ihre Unruhe. Sie mussten den Mann, von dem die Gefahr ausging, im Auge behalten!

Kolja ließ die Geschichte der Liebenden nicht los. Vor allem die Vorstellung nicht, dass sie seit ihrem grauenvollen Tod in Vollmondnächten umherwandelten. In jenen Nächten, in denen auch immer ein Bewohner des Dorfes verschwand. Kolja schlich sich häufig in das Moor, das eine immer größere Faszination auf ihn ausübte. Er wusste nicht genau, was er suchte. Aber es trieb ihn immer wieder dorthin.
Jessica beobachtete sein sonderbares Verhalten mit Sorge. Sie wusste, dass es mit der Geschichte der Moorleichen zu tun hatte und das machte ihr Angst. Etwas anderes jedoch versetzte sie geradezu in Panik. Es waren Träume. Träume, die nachts schleichend in ihrem Kopf und in ihrem Sein Platz nahmen. Zwei Gestalten mit skelettierten Körpern, an denen braun-schlammige Kleiderfetzen hingen und die mit knöcheren Händen nach ihren griffen, riefen immer wieder: "Wir werden dich holen. Du gehörst schon bald zu uns!” Jessica versuchte jede Nacht, dieser Traumsequenz zu entfliehen. Hörte das schaurig-triumphierende Lachen, wenn es ihr nicht gelang, und wachte schweißgebadet auf. Dann kam die Nacht, an der die Schatten durch die Wand ihres Schlafgemaches flossen und sie sich mitgerissen fühlte. Sie wollte schreien, sich wehren, aber sie war wie zu Stein erstarrt. Es war die Nacht, die auf den Tag folgte, an dem Kolja endlich die Stelle im Moor gefunden hatten, an der die Liebenden ihren unfreiwilligen Tod gefunden hatten. Der Tag, an dem er sich nicht weit von der Stelle auf dem Wurzelwerk eines Baumes niedersetzte und fieberhaft überlegte, wie man den Fluch von dem Dorf nehmen könne. Und zu dem Entschluss kam, dass es nur eine Möglichkeit gab: Er musste mit seinen Freunden eben jene Stelle trockenlegen und die sterblichen Überreste der Liebenden bergen. Sie in geweihter Erde zur Ruhe betten. Dort würden sie ihren Frieden finden und die Dorfbewohner künftig verschont bleiben

Sie wussten, es war höchste Zeit, ihn an seinem Tun zu hindern. Keiner des Dorfes war ihnen und ihrer Unsterblichkeit jemals so nahe und somit so gefährlich geworden. Und sie wussten nun, wie sie ihn beherrschen konnten. Die Frau war der Schlüssel. Nur sie war der Garant dafür, dass das Moor weiterhin Schutz und Zufluchtsort für die Liebenden blieb. Ihnen weiterhin eine Heimat gab. Einen sicheren Ort, an dem sie ihre Liebe auskosten und teilen konnten. Und dies länger, als es ihre einstigen Mörder, die schon längst zu Staub zerfallen waren, jemals für möglich gehalten hätten.
Doch nun war es an der Zeit zu handeln.
Die Frau hatte ihnen nichts entgegenzusetzen. Es war leicht, kinderleicht. Beinahe enttäuschend leicht. Das nahm dem Spiel, das es mittlerweile für sie war, den Reiz. Doch der Mann würde ein stärkeres Opfer sein. Ihnen mehr entgegenhalten. Bis sie ihren Trumpf ziehen würden. Ihm die Frau präsentieren würden, der sein Herz gehörte. Sie zu befreien, würde er jedes Risiko eingehen und verlieren.

Kolja erwachte mit dem Gefühl, dass etwas Schreckliches geschehen war. Etwas, das sein ganzes Leben verändern würde. Als es unkontrolliert und hektisch an der Haustür klopfte, verließ er fluchtartig das Bett und rannte, nur mit einer Pyjamahose bekleidet, ins Erdgeschoss. Riss die Tür auf und sah Maria vor sich stehen. Jessicas Mutter. Die Ahnung in ihm wurde zur Gewißheit, als die Frau, die auch für ihn wie eine Mutter war, stammelte. "Jessica ... Jessica ist ... verschwunden.” Ein Schrei löste sich aus ihrer Kehle, schwoll an und kippte dann hysterisch, brach ab in ein Wimmern. Wortfetzen drangen an Koljas Ohr. "Dieses Mal ... dieses Mal ... haben die ... die Verfluchten ... sie haben ... Jessica geholt.”
Kolja taumelte, wäre gestürzt, wenn er sich nicht an dem eisernen Türklopfer der Haustür festgeklammert hätte. Dann wankte er auf Maria zu, schloss sie zitternd in die Arme. So standen sie da, ohne jegliches Zeitgefühl, und weinten.

Jessica fror. Sie fror entsetzlich. Diese feucht-kalte Umklammerung ließ alles Leben aus ihr heraustreten. Und sie hatte Angst. Angst, Kolja nie wiederzusehen. Dabei wusste sie, wie einfach es war, ihn zurück an ihre Seite zu holen. Doch etwas in Jessica kämpfte. Das, was ihren Glauben ausgemacht hatte, ihre Seele, flackerte für einen Bruchteil in ihr auf. Doch es war eine kaum wahrnehmbare Erinnerung. Und es passte nicht mehr zu dem Wesen, das sie nun war. Ein Wesen der Nacht, der Dunkelheit und der Kälte. Es machte sie unglücklich, so zu sein. Nein, sie durfte Kolja nicht auf die dunkle Seite ziehen. Auch wenn sie auf Ewigkeit zur Einsamkeit verdammt war.

Kolja zog es seit Jessicas Verschwinden jede Nacht in das Moor, das bald schon zu einer Art Zufluchtsort für ihn geworden war. Es war die einzige Möglichkeit, der geliebten Frau nahe zu sein. Dann sah er eines Nachts drei Nebelgestalten, die an ihm vorbeiflossen. So schnell, dass er sich am nächsten Morgen fragte, ob er sie tatsächlich gesehen hatte. Oder ob es nur eine Auswirkung seiner überspannten Nerven gewesen war. Oder gar Wunschdenken, die unsterbliche Seele Jessicas um sich zu haben. Sie fast greifbar zu sehen. Wieder dachte er daran, die Stelle, die die Liebenden vermutlich verschlungen hatte, trockenzulegen. Um auch Jessica, gerade Jessica, zur ewigen Ruhe zu verhelfen. Mittlerweile wusste er auch, dass er seine Freunde nicht in seinen Plan einweihen konnte. Die Gefahr, für verrückt erklärt zu werden, auch angesichts Jessicas Tod, war zu groß. So brachte Kolja jede Nacht Gerätschaften ins Moor, die bemitleidenswert unpassend für sein Vorhaben waren, aber ihm nützlich erschienen. Mit dem Mut der Verzweiflung hantierte er damit in dem Faulschlamm herum, versuchte ihn abzutragen, was dieser mit höhnischem Schmatzen honorierte, und geriet immer mehr in den Wahn, in seinem Vorhaben endlich einen entscheidenden Schritt weiterzukommen. Manchmal grub er mit bloßen Händen wie ein Rasender den Schlamm ab. Verbarg das Gesicht in den schmutzigen Händen und weinte. Und seine Seele verlor immer mehr ihren Anker. Er bemerkte nicht, dass ihn die Bewohner des Dorfes erst mitleidig beäugten, dann die Köpfe schüttelten und dann nur noch: "Der Arme, ihm hat Jessicas Tod den Verstand geraubt”, flüsterten. Doch Kolja ließ sich nicht beirren und fasste nach dem letzten Strohhalm. Er nahm Kontakt zu einem Journalisten der größten Zeitung der nahegelegenen Stadt auf. Setzte alles auf eine Karte und erzählte Meier die Geschichte der Moorleichen und was seitdem in dem Dorf, das von den Städtern gemieden wurde, geschehen war. Brach damit das Tabu, niemals einem Menschen außerhalb der Dorfgemeinschaft die Geschichte preiszugeben. Er weihte Meier auch in seine Pläne ein, die Stelle des Moores trockenzulegen, an der die Liebenden gestorben waren und wo er auch Jessicas sterbliche Überreste vermutete.
"Das wird die Story ihres Lebens, Meier!”, schloss er.
Der kratzte sich am Kopf, überlegte zwei bis drei Minuten, griff zum Telefonhörer und führte einige Gespräche. Dann sah er Kolja mit gierigem Reporterblick an und sagte leise. "Okay, Kolja, wir legen die Stelle trocken und ich hoffe für dich und mich, dass wir dort die Leichen finden. Sonst können wir uns warm anziehen. Mein Chef kann sehr unangenehm werden, wenn er unnötige Ausgaben in dieser Höhe verantworten muss.”

Sie hörten die Geräusche. Spürten die Erschütterungen. Sie hatten keine Zeit mehr. Sie mussten handeln! Zuvor mussten sie neues Lebenselixier holen und dann ihren Trumpf einsetzen. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr. Sie hatten ihn unterschätzt. Er hatte Hilfe geholt. Sie waren in Gefahr. In Gefahr, sich erneut zu verlieren. Das durfte nicht geschehen!

"Beeilt euch!” herrschte Meier die Männer an. Die jedoch sahen sich, je dunkler es wurde, immer furchtsamer um. Auch Meier, der sonst alles andere als ein Hasenfuß war, brach der Angstschweiß aus. Der Moorschlamm gab glucksend-bedrohliche Geräusche von sich. Es brodelte und grummelte. Blasen stiegen von dem Grund auf. Die Männer schrien und ließen die Schläuche des Wagens fallen, mit dem sie den Schlamm abpumpen wollten. Die Oberfläche bewegte sich. Schattenhafte Nebel stiegen daraus hervor, formierten sich zu schleierhaften Gestalten. Die Schreie der Männer wurden zu einem, in den sich auch Meiers mischte. Dann ließen sie alles fallen und rannten aus dem Moor. Als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her.
Und Meier lief immer vorneweg!

Kolja hingegen fand keinen Schlaf. Er hatte von dem Vorfall im Moor gehört. Meier hatte zwar sehr bald wieder die Maske des unerschrockenen Reporters aufgesetzt, aber in seinen Augen stand noch deutlich das Entsetzen. So hatten sie beschlossen, zusammen mit den Männern am nächsten Tag und unter dem Schutze des Sonnenlichts, die Stelle im Moor trockenzulegen. Kolja wälzte sich in seinem Bett herum, konnte das Wispern und Zischen erst dann deuten, als sich die Nebelschwaden, die durch die Wand flossen, formatierten. Vor seinem Bett Aufstellung nahmen. Drei Gestalten. Davon zwei eindeutig lange dem Schlamm ausgesetzt und eine, die noch nicht lange aus dem Leben geschieden war. Jessica!
Kolja schrie und setze sich abrupt im Bett auf. Und mit jedem weiteren Schrei, den er ausstieß, verblassten die Gestalten. Kolja fuhr aus dem Bett, zog einen Mantel über den Pyjama und rannte barfuß ins Moor. Das war Jessica. Eindeutig Jessica. Die Sehnsucht nach ihr nahm überhand. Ließ ihn alle Vernunft vergessen. Er wollte sie noch einmal berühren. Nur einmal in den Armen halten. Von ihr Abschied nehmen. Jenen Abschied, den ihm die Moorleichen verwehrt hatten. Er spürte den Boden unter seinen nackten Füßen schlüpfriger werden. Nasser. Schlammiger. Aber er lief weiter. Zu jener Stelle, an der immer noch der Wagen und die Gerätschaften standen.
Dann sah er sie.
Die Moorleichen.
In ihrer Mitte eine Frau.
Sie standen sich gegenüber. Die Liebenden von einst, die Frau, der sein Herz gehörte, und er. Er hatte geahnt, dass er keine Wahl hatte. Jetzt, so bewusst wahrgenommen, raubte es ihm Verstand und Atem. Vor allem, als er das Kind in Jessicas schlammigen Armen sah. Das Kind, dessen Herz noch schlug, dem er das Leben nehmen sollte, um für immer mit ihr vereint zu sein. Jessicas Lippen verzogen sich verzerrt. Von der Schönheit ihres einstigen Lächelns war nichts geblieben. Aber er wollte es wiedersehen. Wollte ihre warmen, weichen Lippen unter seinen spüren und ihren Atem hören. Und er wusste, das war nur möglich, wenn er zu ihresgleichen wurde. Er warf einen zweifelnden Blick auf Jessicas Gesicht. Es war fahl vor mangelnder Lebensenergie.
"Jessica?” flüsterte er fragend. Hörte die Moorleichen zustimmend murmeln. Sah ihre Schattengesichter auffordernd nicken Er wollte das nicht. Wollte sich gegen den stärker werdenden Wunsch auflehnen, auf die Schattenseite zu treten. Weil er wusste, dass damit nicht nur er, sondern auch das Dorf verloren war, wenn sich die Moorleichen mehrten.
Als hätte sie sein inneres Auflehnen gespürt, öffnete Jessica ihren verzerrten Mund. "Kolja!” kroch es krächzend von ihren trockenen Lippen. "Komm, Liebster!” Ihre Stimme nahm einen verheißungsvollen Ton an. Einen Ton, dem er nicht widerstehen konnte. Sie legte das Kind in seine Arme und nickte ihm aufmunternd zu. Kolja seufzte. Dann beugte er sich über den Hals des erstarrten Jungen und versenkte seine Zähne darin.

Meier stieß einen enttäuschten Laut aus, als er auf die trockengelegte Stelle starrte. In dem noch feuchten Grund sah man deutlich die Abdrücke dreier Körper. Doch die Leichen waren verschwunden. Ebenso wie Kolja.

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