Leseprobe: Unter dem Vollmond II

Der Wind trug ihm tausend Gerüche zu, und er ritt auf ihnen seinem Ziel entgegen. In gleichmäßigem Trott rannte er vorbei an den Schienen, tauchte in die Dunkelheit und kam als ein Teil von ihr wieder hervor. Die Jagd lag ihm im Blut. Auf Dauer konnte ihn niemand einsperren. Der Meister wusste das, und war nie lange böse, solange er nur zurückkehrte. Und das musste er.
An den Metallschwellen erklang leises Sirren. Es quälte ihn, und er wich in einen Grünstreifen aus.
Seine Brust bebte. Die Nüstern sogen die Düfte in schneller Folge ein. Er roch erhitztes Metall, taunasse Steine voller Rost. Pflanzen. Beute.
Immer noch geisterte das Summen über die Gleise, lauter jetzt. Eine Frau näherte sich. Er drückte sich hinter den nächsten Strauch und verschmolz mit der Nacht. Die Frau führte einen kleinen Hund an einem Lederriemen. Der Winzling blieb stehen und stemmte die kurzen Beinchen in den Boden. Er kläffte, doch die Frau beachtete ihn kaum.
»Nun mach schon!«, sagte sie und beschimpfte das Tier. »Musst du an jeden Grashalm in Haldern pinkeln?«
Das anhaltende Pfeifen von der Gleisstraße fraß sich in seinen Schädel, und er zog die Kapuze tiefer ins Gesicht. Gewaltsam zerrte die Frau den Hund weiter. Das Tier jaulte, aber der Laut ging im Sog des heranrasenden Zuges unter.
Jetzt sprang er vorwärts. Drei, vier Sätze, und er hatte die beiden eingeholt. Die Frau wandte sich zur Flucht und schrie. Neben ihr bellte der Hund in den höchsten Tönen. Er trat den Kläffer weg, streckte die Klauen vor und stieß sie wie Dolche in den Rücken der Frau. Dann wirbelte er die Beute herum. Ihre Hilfeschreie schluckte der vorbeidonnernde Zug und sie verstummte, als seine Hand ihre Kehle zerfetzte. Der Zug verschwand ratternd in der Ferne. Der Jäger sog den Geruch des frischen Blutes tief ein und ließ die Beute zu Boden sinken. Das Hundchen biss zu, doch er spürte die Zähne kaum und schob das Tier fort. Schließlich packte er die Schlaufe der Lederschnur, dachte an die unsichtbare Leine, die ihn an den Meister fesselte ... Er band den Hund an den nächsten Zaun.
Dann zerlegte er liebevoll die Beute. Er hatte sie diesmal nicht gefunden, die Frau mit dem besonderen Aroma. Die Jagd war keinesfalls zu Ende. Noch lange nicht.

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