Leseprobe: Unter dem Vollmond I

Der Sturz verfolgte Verena in den Schlaf. Aber sie quälten nicht die albtraumhaften Momente in der feuchten Erdmiete, sondern ein gänzlich anderer Alpdruck.
In ihrem Traum stand Verena auf der Heide, die so erstarrt und lautlos dalag, als wäre sie aus der Zeit gestürzt. Flecken von Heidekraut schlummerten vor sich hin, Mulden dazwischen glichen finsteren Schächten. Gebadet im Licht des vollen Mondes wirkte der Landstrich wie ein flacher Scherenschnitt, den jemand über die Ebene gebreitet hatte. Schattenhaft, wie ein kauerndes Raubtier, war Weißenbach der einzige Bezugspunkt in der Einöde.
Verena machte einige Schritte auf das Gebäude zu. Der Mond über ihr war riesig und stand in ihrem Rücken, sodass er eigentlich das Haus in jeder Einzelheit aus der Nacht gehoben hätte. Doch Weißenbach, die seitlichen Gebäudeflügel ausgestreckt wie die Pranken einer lauernden Großkatze, hüllte sich in Dunkel. Mit einer Ausnahme. Das Pfauenornament an der Fassade pulsierte in rötlichem Licht mit der Frequenz menschlichen Herzschlags.
Von einem Pochen zum nächsten verschob sich die Perspektive. Verena stand nun seitlich des Hauses, das eindimensional und flach aussah und wie eine Theaterkulisse vornüber zu kippen drohte. Der Pfau präsentierte sein Federrad wie eh und je. Dann aber glomm der Federkranz auf wie ein zweiter Mond. Der Vogel hüpfte von der Wand und hinterließ ein Loch in der Fassade. Die Tiergestalt wirbelte in der Luft wie ein Feuerrad, und die violetten Federn verliehen der Scheibe einen fast bläulichen Schimmer. Der Pfauenmond rollte den Horizont entlang, kreiselte den Himmel hinauf bis zu seinem bleichen Bruder und vereinigte sich mit dem Nachtgestirn.
Ein Fenster riss von der Hauswand ab und trudelte in langen Schwüngen auf Verena zu. Panisch rannte sie weg, lief und sprang mit Traumbeinen so schnell, wie sie es seit der Kindheit nicht mehr getan hatte.
Sie wagte nicht, zurückzublicken, denn die Furcht erreichte ihr Herz und umklammerte es mit Eisenfingern. Ihre Beine stampften über den Boden – schneller, schneller ... Beinahe wäre sie über die eigenen Füße gestolpert, als vor ihr eine Grube aufklaffte. Aber das war keine Grube! Wie bei einem Kamerazoom rückte der Bach heran, viel schneller, als Verena sich bewegte. Er versperrte ihr den Weg.
Längst hätte sie das Plätschern des Wassers hören müssen, doch alles, was sie vernahm, war erfrorene Stille ringsum. Der Bach rann träge durch sein Bett, und das sonst milchige Wasser besaß die Farbe erkaltender Lava. Verena schrak zurück. Aus ihrem Blickwinkel sah es aus, als liefe Blut aus dem Gebäude und bahne sich als Bach einen Weg durch die krautige Heide.
Die schattenverwobene Landschaft rückte erneut zusammen und stellte ihre Perspektive auf den Kopf. Verena stand nun jenseits des Bachlaufs. Von hier aus sah sie etwas im Wasser schwimmen. Neugier kämpfte mit erwachendem Grauen, als sie annähernd menschliche Formen ausmachte. Verena wollte nicht so genau hinsehen, doch ein innerer Zwang beherrschte sie, und sie konnte die Augen nicht abwenden. Zwei Körper trieben durch das Bachbett, bleich im Mondlicht, nackt und blutleer. Es waren zwei junge Frauen. Die langen Haare klebten wie Seegras über ihren Gesichtern.
Verena versuchte noch, die Gesichtszüge auszumachen, da rissen beide den Mund auf. Aus den fischgleich geöffneten Lippen quoll ein Schrei, der sich durch Verenas Schädel sengte. Schlagartig erbleichte das Wasser. Als hätten die Frauen alle Farbe aus dem Bach gezogen, wirkten ihre Körper erst rosig, dann purpurn, denn ihr Blut strömte aus allen Poren über die Haut.
Immer noch hallte der Schrei in Verenas Gedanken nach, ein bloßer Laut des Entsetzens und der Verzweiflung. Wenn die beiden noch lebten, musste sie ihnen helfen. Aber ehe Verena einen Schritt tat, spülte das milchweiße Nass des Bachs um ihre eigenen bloßen Füße. Sie fühlte, wie sich ihr Fleisch bei der Berührung auflöste und Teil des Wassers wurde, das aus dem Loch in der Hausfassade blutete wie aus einer tödlichen Wunde. Und ehe der Schmerz der Auflösung ihren Verstand erreicht hatte, wachte Verena auf.
Einige Momente lag sie desorientiert da. Dann stand sie auf und zog sich etwas über. Ihr Kalender verriet ihr, dass heute tatsächlich Vollmond war, auch wenn durch das Oberlicht natürlich nichts davon zu sehen war. Verena schrieb den Traum auf, in der Hoffnung, damit den Schrecken aus ihrem Gedächtnis zu löschen, und stieg fröstelnd wieder ins Bett. Was für eine Nacht!

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