Leseprobe: Büroalltag

Der Wecker piepst gnadenlos. Ich erwache und wälze mich auf dem Laken. Dann haue ich auf den Krachmacher. Dabei sind es doch nur drei Stunden Schlaf gewesen. Hatte ja genug zu tun. Diese kleinen Scheißer wollten die Kinder mit ihren Drogen vergiften. Ich war ihnen gefolgt. Bis zu ihrem Treffpunkt. Als sie mich sahen, lachten sie. Einszweiundsechzig, noch dazu schlank, sieht auch nicht gerade gefährlich aus. Ich warnte sie noch. Doch sie lachten weiter. Ich knurrte, verwandelte mich. Dann lachten sie nicht mehr, sondern zitterten und starben anschließend. Warum war auch einer so blöd, eine Waffe zu ziehen und wie ein Bekloppter rumzuballern? Nun liegen die Halunken sicher verscharrt im Wald. Mit ihrem Gift. Und ich muss neue Klamotten kaufen. Warum habe ich nicht dran gedacht, mich vorher auszuziehen? Baumwolle hat einen geringen Dehnbarkeitsgrad. Man könnte auch sagen, sie reißt schnell. Von einszweiundsechzig auf zwei Meter fünfzig in drei Sekunden ist aber auch anspruchsvoll für ein Stückchen Stoff.
Schließlich wachse ich über mich hinaus wenn ich arbeite. Ich bin eine Heldin. Eine Superheldin. Pah. Was bringt es mir? Ringe unter den Augen. Daraus resultierend zu wenig Sex und erhöhten Koffeinbedarf. Daraus resultierend vermutlich frühzeitigen Herzinfarkt. Überproportionaler Bedarf an textilem Nachschub. Daraus resultierend frühzeitige Armut wegen ausgiebigen Shoppingtouren. Okay, das ist nicht wirklich schlimm. Gut, das mit dem Sex schon.
Der Wecker piepst erneut. Was für ein hässliches Geräusch. Noch hässlicher ist allerdings das Klirren, als er unter der Wucht eines erneuten Schlages beschließt, meiner Schlagkraft nicht standzuhalten. Na toll, nun muss ich auch einen neuen Wecker kaufen.
Mühsam öffne ich die Augen. Diese ständigen Nachtschichten werden noch mein Tod sein. Wildgeruch steigt mir in die Nase. Da habe ich wohl einen kleinen Snack von draußen mit ins Bett genommen. Während andere nachts noch mal schnell zum McDrive fahren, gehe ich in den Wald. Das blutige Kaninchen liegt neben mir auf dem weißen Laken. Nur halb gegessen. So groß war der Hunger nicht. Ich würge. Das muss dann doch nicht sein. Hätte es nicht ein gutaussehender Mann sein können? Einer, der noch lebt und in einem Stück ist. Mich liebevoll wach küsst. Mir Kaffee ans Bett bringt. Mich in Ziegenmilch badet. Aber selbst in den kühnsten Träumen wird es wohl solch einen Mann nicht geben. Ein Gedankenblitz lässt mich hochschnellen.
Ist heute Dienstag? Shit, in drei Stunden kommt die Putzfrau. Ich muss zur Arbeit. Gehetzt springe ich aus dem Bett, stolpere über den Teppich, rappele mich wieder auf und laufe durch die Wohnung. Überall sind Pfotenabdrücke. Ich besitze aber keinen Hund. Und außerdem sind sie riesig. Haben eher Yeti-Ausmaße. Verflucht, was jetzt? Entsetzt starre ich auf den Boden. Und das alles vor dem ersten Kaffee. Wird bestimmt ein Scheißtag. Unangenehme Fragen von der Putzfrau will ich nicht beantworten. Die ist schon misstrauisch genug. Bestechung lässt mein Geldbeutel leider nicht zu. Einweihen kommt auch nicht in Frage. Also gut, die Dusche muss warten. Erst den Snack entsorgen. Aber wohin?
Meine Zeit rinnt davon. Die Arbeit ruft. Gehetzt schaue ich mich um. Der Papierkorb gleitet in mein Blickfeld. Nein, schlechte Idee. Los, denk nach. Aber wie, ohne Kaffee? Die Lösung gibt sich auf ungewöhnlichen Wegen zu erkennen. Nachbars Schäferhund bellt. Mein einziger Verehrer.
Schnell ins Schlafzimmer zurück. Wenn das so weitergeht, brauche ich keinen Kaffee mehr, um wach zu werden. Ich ziehe mir den Bademantel über, schnappe mir das Kaninchen, laufe mit dem Snack in der Hand in den Garten. Dort steht er, auf Nachbars Grundstück. Und hechelt. Sein Penis erigiert, als er mich sieht. Er riecht die Wölfin in mir. Ich seine Geilheit. Es ist widerlich. Ich werfe den blutigen Kadaver über den Zaun. Er schnappt danach und läuft davon. So leicht sind Männer von einer Alternative zu überzeugen.
Schnell renne ich zurück ins Haus, ziehe das Bett ab, werfe das Laken in die Waschmaschine, wische die Bodenfliesen. Puh, geschafft. Alles ist sauber. Noch schnell duschen und mich stylen. Lippenstift, Nagellack, Bluse. Das Übliche, um in der Männerwelt zu bestehen. Aber erst einmal eine Kanne Kaffee aufsetzen. Soviel Zeit muss sein. Das hab ich mir verdient. Ich drücke auf den Knopf. Nichts. Ich drücke noch mal. Wieder nichts. Mist. Das Ding ist kaputt. Ich wusste doch, es wird ein Scheißtag. Dann muss ich wohl kalt duschen, um meinen Kreislauf anzukurbeln. Das hasse ich. Meine Laune sinkt weit unter Null. Ich habe jetzt schon Mitleid mit den Verbrechern von heute Nacht.

Um 08:55 Uhr parke ich meinen alten Polo mit quietschenden Reifen auf dem Firmenparkplatz. Der Seniorchef zeigt mir einen Vogel. Idiot. Der muss ja hier auch nicht arbeiten, sondern kassiert nur Geld. Er hat keine geregelten Arbeitszeiten. Nur geregelte Freizeit. Oder meinte er meinen kaputten Auspuff? Wenn er mir 'ne Gehaltserhöhung gibt, lass ich ihn reparieren.
Um neun sitze ich an meinem Schreibtisch bei Zappel Landmaschinen GmbH. Die Schlacht um die Kaffeemaschine habe ich gewonnen. Sehr zum Leidwesen meiner Kollegen. Manchmal ist es geil, eine Werwölfin zu sein. Für die blutenden Striemen habe ich mich dann doch entschuldigt. Der erste Muntermacher schießt durch meine Blutbahn. Ich starre auf den Bildschirm. Fünfundsechzig ungelesene Mails. Der Chef, Kunden, Andrea, die mich zu einer Singleparty für Samstag einlädt. In den Kuhstall, die Dorfdisco. Meine Finger huschen über die Tastatur. Ich sage zu. Vielleicht kommen ja ein paar Jungs aus der Stadt. Wäre mal wieder Zeit für mich, mit jemandem Sex zu haben. Der letzte Kerl vor zehn Tagen war ein Schlappschwanz. Hat nur zwei Stunden durchgehalten. Meine Werwolfskraft verlangt nach mehr. Besonders nach Gleichberechtigung. Das scheint aber ein Fremdwort zu sein. Zumindest für Männer. Ich stütze meinen Kopf auf die eine Hand, halte mit der anderen den Kaffee. Trinke ihn in tiefen Zügen. Das Lebenselixier weckt meine Gedanken. Wie komme ich an einen passenden Kerl? Vielleicht sollte ich eine Anzeige aufgeben? Suche Mann, der drei Stunden und mehr durchhält. Sinnloses Wunschdenken. Der deutsche Durchschnitt liegt bei zweieinhalb Minuten. Da ist vermutlich sogar der Schäferhund vom Nachbarn noch besser.
„Frau Müller, ich brauche in zehn Minuten eine Präsentation für die Sitzung“, ruft der Juniorchef aus seinem Büro. Reißt mich damit aus meinen Träumen. Vor Schreck lasse ich die Tasse fallen. Der Inhalt ergießt sich über die Bonusabrechnungen vom letzten Jahr. Die Zahlen verschwimmen. Nichts ist mehr zu lesen. Waren ja nur zwei Monate Arbeit. Muss der mich immer so erschrecken? Ich verziehe das Gesicht, balle meine Hand zur Faust. Es wird auch so gehen. Der eine oder andere freut sich bestimmt über ein bisschen mehr Bonus. Was hat der Chef gesagt? Zehn Minuten? Hat er einen Schaden? Die Sitzung wurde vor vier Wochen geplant. Da hätte er genug Zeit gehabt. Ich brodele. Knurre. Meine Kolleginnen schauen mich verständnislos an. „’tschuldigung“, sage ich hastig. Herrschaft! Ich muss besser aufpassen. Kann der Chef nicht mal was stehlen? Das Problem hätte ich dann schnell gelöst. Auf meine Art. Ich grinse bei dem Gedanken. Dann schaue ich auf den Bildschirm und lasse meine Finger über die Tasten fliegen. Nach wenigen Minuten gehe ich zu meinem Chef ins Büro. Meine Absätze klappern auf dem Boden. Er schaut mich an, wirft einen vielsagenden Blick auf meine Stöckelstiefel. Ich beachte ihn nicht. Obwohl er eine Granate ist: Dressman, Fitness-Studio und Zahnpastalächeln. Aber irgendwie riecht er komisch. Bin noch nicht dahinter gekommen, was es ist, lasse aber besser die Finger davon. Geht sowieso nie gut, Chef und Tippse. Kennt man ja. Ich starre also lieber an ihm vorbei durchs Fenster. Drücke ihm die Folien in die Hand.
„Bitte, Chef“, zirpe ich zuckersüß.
Er wirft einen Blick auf die Präsentation. „Das hätte aber besser werden können.“
Na super. Die hohen Herren gehen immer auf Sitzungen. Trinken Kaffee. Essen Plätzchen. Entscheiden nichts und erkennen noch nicht einmal die Arbeit ihrer Mitarbeiterinnen an. Vor Wut spannen sich meine Muskeln. Ich knirsche mit den Zähnen. Wenn ich jetzt die Beherrschung verliere, braucht er einen Schönheitschirurgen.
Die Kaffeetasse in meiner Hand zerplatzt. Mein Chef erschrickt und hat keine Ahnung, dass die Tasse ihm soeben sein Aussehen gerettet hat. Nur ein paar Spritzer auf dem Sakko und Scherben auf dem Schreibtisch gibt es zu beklagen.
„Der Ton war alt“, lüge ich, schaue auf meine weißen Knöchel. Und du bist gleich kalt. Das war schon der zweite Kaffee, den er mir versaut hat. Langsam reichts. So gut kann kein Mann aussehen, dass ich Kaffeeverlust verzeihe. Aber ich sage nichts, bin nur noch wütend. Ein Vulkan ist nichts gegen mich. Ich nehme mir vor, ein Auge auf ihn zu werfen. Nein, nicht so eins. Geht eher um die Flecken auf seiner Weste, die nicht vom Kaffee stammen. Auch der hat bestimmt eine Leiche im Keller.
„Schon gut“, versucht er mich zu beschwichtigen, „ich komme schon klar.“
Mit funkelndem Blick drehe ich mich um und verlasse das Büro. Es warten noch dreiunddreißig E-Mails. Von Leuten, die meine Arbeit mehr schätzen. Doch zuerst wartet das neue Modemagazin auf mich.

Nach zwei Stunden schaue ich auf die Uhr und atme auf. Mittagspause. Die Zeitschrift und die erstellte Wunschliste lege ich beiseite. Ich brauche dringend mehr Geld.
Fast alle sind weg. Eine Kollegin fragt, ob ich mit in die Kantine komme. Heute gibt es Kaninchen. Ich verzichte, verdrehe die Augen und schüttle energisch den Kopf. Sie zuckt mit den Schultern und geht. Lässig lege ich die Beine hoch und wippe mit den Füßen. Trinke noch einen weiteren Kaffee. Den zwanzigsten. Mein Herz hämmert.
„Päckchen“, ruft eine Stimme durchs Büro. Ich wirbele herum. Ein Bote nähert sich. Habe ihn noch nie hier gesehen.
Überrascht ziehe ich die Augenbrauen hoch. Was für ein Mann! Ich rutsche fast vom Bürostuhl. „Arrg“, zische ich, während der Stuhl nach hinten rollt, ich mich krampfhaft an der Schreibtischkante festhalte. Gekonnt komme ich zum Stehen und hole mir den Stuhl zurück. Verschnaufe kurz und setze mich wieder. Ich spüre mein Blut pulsieren – die Hormone. Oder ist es der Kaffee?
Der Bote ist Südländer. Seine Muskelberge spannen das Hemd, schwarze Haare, dunkle Augen, schöne Hände. Genau mein Typ. Außerdem sollen die auch länger können. Sind ja als feurige Liebhaber bekannt. Den krall ich mir. Im wahrsten Sinn des Wortes. Ich fahre mir durchs rote Haar, nehme die Brille ab und schüttele meine Locken. Anschließend öffne ich zwei Knöpfe meiner Bluse. Keine Sekunde zu früh. Er bewegt sich wie eine Raubkatze nah an meinen Schreibtisch heran und wirkt wie jemand, der alles im Griff hat. Im Moment ist es das Päckchen.
Graziös erhebe ich mich vom Stuhl und setze mich auf die Kante des Tisches. Versuche lächelnd Eindruck zu schinden. Gott sei Dank trage ich einen kurzen Rock. Lasziv schlage ich meine Beine übereinander und lege einen Oscar reifen Augenaufschlag hin.
„Ja, hierher“, sage ich, winke ihn zu mir. Er riecht herrlich. Manchmal ist es toll, eine Werwölfin zu sein. Wir kommen ins Gespräch. Flirten ein wenig. Ich rieche seine Bereitschaft. Mein Lächeln wird immer breiter. Heute Nacht habe ich einen Mann.
Aber er versaut es.
„Ist das ein Flohhalsband?“
Ich schaue ihn kühl an. „Pariser Chic.“ Meine Stimme lässt die Luft gefrieren. Ich springe von der Kante und ziehe den Rock soweit wie möglich runter. Knöpfe die Bluse zu und entreiße dem Boten das Paket. Dann werfe ich ihn aus dem Büro. Ich glaube, er zitterte ein wenig, als sich mein Griff um sein Handgelenk löste. Pah. Flohhalsband. Unwillkürlich kratze ich mich am Hals. Mist, wieder nichts.
Der Rest des Tages zieht träge dahin. Mit Kaffee, zwei Modezeitschriften und einem Bericht.

17:00 Uhr. Endlich Feierabend. Nur schnell raus aus der Firma. Was für ein Tag! Ich gehe zu meinem Auto, steige ein und düse mit Vollgas zu Elektro Albers. Die Auswahl ist zwar praktisch nicht gegeben und die Preise erinnern an die Inflation in den Zwanzigern, aber ohne Kaffeemaschine werde ich keinen weiteren Tag überleben.
Toll, er hat ein Angebot: 29,95 Ocken für eine Maschine, die ich woanders für bescheidene fünfzehn bekomme. Das letzte Exemplar schnappt sich gerade Frau Schulze. Wie kann es auch anders sein.
Da kommt mir eine Idee. „Frau Schulze, jemand ist gerade in Ihr Auto gefahren und abgehauen“, behaupte ich so ernst wie möglich.
„Was?“ Meine Kaffeemaschinengegnerin wirbelt herum, stellt das Objekt meiner Begierde wieder zurück und rennt hinaus.
Ich grinse diabolisch. Dann schnappe ich mir den Karton, bezahle schnell und verschwinde.

Zuhause wartet er schon auf dem Nachbargrundstück auf mich. Wie macht er das bloß? Rocky wedelt mit dem Schwanz. Ich tätschele seinen Kopf. Erst schaut er mich sabbernd an, dann geht ihm einer ab. Doch schlechter als der deutsche männliche Durchschnitt.
Heute Nacht werde ich mir den Neuen im Ort mal ansehen. Ein irischer Wolfshund. Groß, muskulös. Und Iren sollen ja auch gut sein. Geschickt umrunde ich die kleine Pfütze vor Rocky. Er will mir nachlaufen. Ich funkele ihn an. Knurre gefährlich tief aus der Kehle. Rocky zieht den Schwanz ein und hechtet davon. Müde schließe ich die Tür auf und betrete mein Haus. Die Reinlichkeit kann ich förmlich riechen. Domestos hoch zehn. Es ätzt mir fast die Nasenschleimhaut weg. Zumindest funkelt alles. Verstohlen ziehe ich die Stiefel aus. Möchte ja keinen Dreck hinterlassen. Dann schlüpfe ich in meine Puschen und gehe in die Küche. Befreie meinen Lebensretter aus dem Karton, schließe ihn überglücklich an und braue mir einen Kaffee. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel: „Kindchen, geh zum Arzt. Soviel Blutverlust ist ungesund. Liebe Grüße, Tante Hilde.“ Mist, ich habe vergessen, die Waschmaschine anzustellen.
Fünf Stunden habe ich noch, bevor ich los muss. Noch genug Zeit. Schnell hüpfe ich unter die Dusche. Das hätte der Preis des Boten sein können – mein Körper. Aber wer so dämlich ist und einen Spruch über den Schmuck einer Frau macht … Anschließend ruhe ich mich aus, lackiere mir die Nägel mit meinem grünen Speziallack. Während er trocknet, schaue ich in die Fernsehzeitung. Es gibt Teen Wolf. Ich brülle laut los. Ein Werwolf, der auf der Highschool akzeptiert wird. Freunde hat. Sogar eine Freundin. Den jeder mag, und der so niedlich aussieht. So was kann nur Hollywood erfinden. Die Realität sieht anders aus. Kein Mann im Bett. Ein Flohhalsband als Schmuck.

Um 23:00 Uhr springe ich als Werwolf durchs offene Fenster. Meine Taschentücher im Maul. Die Krallen scharf und grün. Bei Metzger Tönjes sind zum wiederholten Mal Schweinehälften geklaut worden. Es wird bestimmt wieder eine lange Nacht. Zum Glück habe ich für später genug Kaffee im Haus.

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