Leseprobe: Tumoreske

DIE VORGESCHICHTE

Älterer, leicht korpulenter Mann wohnt in einer Großstadt. Sein Vermieter ist paranoid und hat Sprechanlage und elektrischen Türöffner außer Betrieb gesetzt.
Der Korpulente ist deshalb gezwungen, den Wohnungsschlüssel aus dem Badezimmerfenster zu werfen. Er ist zu langsam, um aus dem dritten Stock hinunter zu spurten und die Paketpost wartet nicht.
Bei der ungefähr siebenhundertfünfundsechzigsten Verrenkung, den Schlüssel in den Hof zu werfen, rutscht er in der Duschwanne aus und bricht sich irgendetwas, das in der Schmerzskala zwischen 9 und 10 zu Buche schlägt.
Der Notarzt müsste das Hoftor aufschweißen oder die Haustür aufbrechen, also wird ein Freund alarmiert, der einen Zweitschlüssel hat und den Arzt hineinlassen kann.
Alles in allem vergehen so zwei Tage. Der Arzt überweist mit dem Verdacht auf Wirbelbruch in eine Klinik. Mit dem Vermerk: Patient muss getragen werden.
Wird er nicht, wer will schon 100 Kilo aus dem dritten Stock schleppen? Ergo schleppt sich der Alte mit zusammengebissenen Zähnen selbst.
Auch im Krankenhaus muss er sich bis zum Rollstuhl bewegen, man ist ja nicht in Amiland.
Der Mann darf sich nun Patient nennen.

DIE GESCHICHTE

Nach einer Weile kommt ein junger Assistenzarzt und nimmt eine Blut- sowie Urinprobe.
Ungefähr vier Stunden lang passiert überhaupt nichts, der Patient öffnet mühsam die Tür und fragt, wann es weitergeht.
Ihm wird beschieden: „Wir sind hier in der Notaufnahme, da kommen wichtigere Fälle dazwischen.“
Offenbar ist er kein Notfall, denn er blutet weder aus der Nase noch dem kleinen Finger.
Irgendwann geht es dann doch zum Röntgen.
Der Röntgentechniker oder was immer er ist, knallt den Patienten auf den Tisch wie der Schlachter eine Schweinehälfte, was vom Gewicht her auch in etwa hinkommt. Dem Patienten entfährt ein herzhaftes „Aaahr“, worauf der Schlachter meint: „Brüllen Sie mich nicht an.“
Wenn der Wirbel bislang nur angebrochen oder geprellt gewesen war, jetzt ist er durch, denkt der Delinquent, hält jedoch den Mund.
Ihm ist bewusst, dass Kliniken unter Personalmangel leiden und damit auch der Inkompetenz Tür und Tor geöffnet wurde. So ist auch dieses Haus offenbar von allen guten und heiligen Geistern verlassen.
Mehr tot als lebendig erreicht der Patient sein Zimmer. Als er die erste Schwester zu Gesicht bekommt, verlangt er nach einem Telefon, doch dafür ist das Pflegepersonal nicht zuständig, er solle sich gefälligst zur Pforte bemühen.
Er benutzt sein Handy, das ist zwar in einigen Krankenhäusern verboten – aus finanziellen, nicht aus technischen Gründen. Und so lernt er seine beiden Zimmergenossen kennen.
Denn Nummer eins sagt frustriert: „Ich habe zwei Tage darauf gewartet, dann habe ich aufgegeben.“
Na ja, die Schwestern verdienten nicht daran und Trinkgelder in Krankenstätten sind hierzulande eher unüblich.
Genosse eins liest unentwegt G. F. Unger-Western, wenn er nicht gerade schnarcht. Die Lektüre scheint ihn anzustrengen, obwohl selbst Jerry Cotton, verglichen mit Unger, hohe Literatur ist. Genosse zwei schnarcht ungleich lauter, wenn er nicht gerade schreit oder an den Gittern des Bettes rüttelt. Er leidet an Parkinson und Alzheimer und hat darüber hinaus einen Hüftbruch nebst OP hinter sich. Nummer eins laboriert an fünfzehn Krankheiten, unter anderem Asthma, ist aber wegen einer Knie-OP hier.
Diese illustre Gesellschaft wird zwar die Genesung verlangsamen, aber seinen Abgang beschleunigen, so denkt der Wirbelbruch jedenfalls.
Nach pausenlosen Reklamationen erhält er am späten Abend dann doch noch ein Telefon.


An Schlaf ist in der ersten (und auch der zweiten) Nacht nicht zu denken, denn Alois, so hat der Wirbelbruch den dementen Genossen Nummer zwei getauft, trommelt, rüttelt, schreit und versucht die Vorhänge abzureißen. Der Wirbelbruch klingelt nach der Schwester und bekommt prompt einen Anschiss!
„Sie brauchen wegen dem nicht zu klingeln, wir schauen sowieso öfter nach ihm.“
Hätte man ja wissen können.
Am Morgen wieseln neben der Putzkolonne und Blutdruckmesserinnen auch ärzteähnliche Gestalten durch das Zimmer, die sich aber weder mit Namen, Rang oder Feldpostnummer vorstellen.
Aber mit etwas Menschenkenntnis kann man den Pflegechef schon vom Oberarzt oder der Stationsärztin unterscheiden, und die jüngeren müssen die Assistenten sein.
Alles dauert nur Sekunden und gilt nicht ihm, er ist ja ein noch nicht gesichtetes Röntgenbild.
Ihm gilt nur die Bemerkung, dass es nach Rauch stinke.
„Das haben die Klamotten eines Rauchers nun mal so an sich“, meint der Wirbelbruch locker, aber jeder, der den Raum betritt, motzt in der gleichen Weise. Also beschließt er zu rauchen, wenn man ihn so nachhaltig darum „bittet“. Er fragt seinen Bettnachbarn, den er inzwischen Prekarius nennt, ob es stören würde. Doch dem ist’s egal. Alois auch, denn mit 90 und Alzheimer ist eh alles schnuppe.
Im Laufe des Tages eröffnet eine Ärztin, dass auf dem Röntgenbild nichts Konkretes zu erkennen sei und der Wirbelbruch später zu einer CT abgeholt werde.
Wieder in der Metzgerei, wird er vom Schlachter und einer weiteren Assistentin empfangen. Wieder wird er schmerzhaft herumgerollt, geworfen, ihm vergeht das Sehen, was er auch sagt.
Der Schlachter meint darauf trocken: „Sie brauchen auch nichts zu sehen.“
Irgendwie logisch, vor dem Erschießen gibt es ja auch Augenbinden.
Dennoch gelangt er nach einer Weile wieder in sein Zimmer; Prekarius liest, Alois rüttelt und furzt. Da kann man sich fast heimisch fühlen.
Er leiht sich einen Stapel Western und liest ebenfalls. Alle zwanzig Seiten wird dem Helden oder dem Gangster in den Rücken geschossen. Nie hat er schöner mitgelitten.
Die Bösen sterben meist, die Guten liegen acht Wochen flach und essen Hühnersuppe.
Er isst alles, was man ihm vorsetzt. Dabei soll er stehen, denn das Sitzen ist ebenso untersagt wie das erhöhte Liegen. Er soll im Bett in der absoluten Horizontalen bleiben.
Aber da hätte er die doppelte Armlänge eines Schimpansen gebraucht. Da er im Sitzen weitaus weniger Schmerzen hat, als im Liegen, fehlt ihm zudem die Einsicht, dass mehr Schmerzen eine schnellere Heilung bewirken soll.
Außerdem hätte er in der Horizontalen nicht die wunderbaren TV-Soaps, die Prekarius in den Lesepausen anmacht, sehen können.
Der Wirbelbruch raucht in der Patiententoilette, er raucht in der Gästetoilette, er trinkt Sekt in der schmucklosen Caféteria – und er gesellt sich sogar zur „Unterschicht“. So bezeichnet die Gesundheitspostille STERN inzwischen Raucher, die im Freien stehen und zitternd und schimpfend an ihren Glimmstängeln saugen. Aber Angst und schlechtes Gewissen überwiegen, er kann keinen überreden, einen anderen Platz aufzusuchen, beispielsweise ein Go-in in die Caféteria, in der bis vor acht Tagen noch das Rauchen gestattet war, zu veranstalten.
Angst und das Obrigkeitsdenken haben mehr Menschenleben gekostet als alle Drogen dieser Welt. Und Zeitschriften wie SPIEGEL und STERN, die ach so vehementen Vertreter des neuen Gesundheitswahns, wissen mal wieder nicht, was sie tun. Der Wahrheitsgehalt in den Artikeln der schreibenden Witzfiguren ist nicht viel größer als der der Hitlertagebücher.
Einstein, Wilhelm Busch, Helmut Schmidt, Thomas Mann und Tausende anderer Genies, alles Raucher und keiner starb jung an einer Zigarette oder Pfeife. Ausnahme: Schiller, aber der war ja auch Arzt. Militärarzt, und wer da nicht krank wird ...

In der folgenden Nacht entschuldigt sich eine Krankenschwester, dass ein großer Teil der Pfleger und Ärzte selbst rauche, und dass fünf Meter von seinem Zimmer ein halbgeheimer Raucherraum zur Verfügung stünde. Er solle die nächste Kollegin von der Nachtschicht danach fragen.
Die lehnt ab, Denunzianten sehen überall Denunzianten und Heuchler Heuchler, denn auch sie hatte über seine verqualmten Klamotten gemeckert.
Ein paar Tage später wird das „Geheimrauchen“ einem Neuzugang erlaubt, er hatte als Handwerker früher in diesem Haus gearbeitet und gilt wohl als koscher.
Dann kommen die Höhepunkte. Alois sollte ins Pflegeheim – eine gute Entscheidung.
Aber die blondeste Schwester mit der lautesten Stimme muss zuvor noch einen Alleingang wagen. Sie versucht den großen schweren Mann vom Bett auf einen Stuhl zu setzen, mit dem Ergebnis, dass sich beide schreiend auf dem Boden wälzen.
Und sofort giftet die grenzdebile Blonde den Wirbelbruch an: „Sie sind mir ja eine große Hilfe.“
Klar, mit solch einem Bruch sind 100 Kilo ein Klacks und auf die Idee, die Klingel zu betätigen, kam er nicht, schließlich war das Geschrei laut genug.

Endlich, nach über einer Woche Wartezeit, wird Prekarius in den OP gerollt.
Später erzählt er, dass er vor dem OP Raum von der Trage gefallen war. Das kommt ziemlich oft vor, wie man weiß, und für ihn war es kein Problem, einmal mehr auf die Birne gefallen zu sein. Früher Berufs- jetzt Patientenrisiko.
Daran war Blondie sicher nicht beteiligt und das Einzige, das noch für sie sprach, war, dass sie mit Alois wie mit einem vernünftigen Menschen zu reden versuchte. Dafür quatschte sie mit anderen auf der Schwachsinnigen-Ebene. Das liegt ihr besser.
Dem Chefarzt sowieso. Denn heute ist es soweit; der Herr der Weißkittel opfert funfundvierzig Sekunden seiner Zeit, um den Wirbelbruch streng zu ermahnen.
Der hat nämlich das Kopfteil in 40 Grad Stellung und liest.
„Haben Sie als Kind mit Bauklötzchen gespielt?“, fragt der Chefarzt.
Der Patient ist perplex, die passende Antwort fällt ihm erst später ein: „Ich habe schon Schach gespielt, als sie noch Bauklötze staunten.“
Der Arzt will mit seinem Vergleich auf die Wirbelsäule verweisen, und das Bett wird wieder in die Horizontale gebracht.
Als der Wirbelbruch später den Pfleger bittet, es wieder höher zu stellen, lautet dessen Kommentar: „Sie haben doch den Professor gehört.“
Die Worte hörte er wohl, allein ihm fehlte der Glaube. Immerhin hatte auch eine Putzfrau den Prof. nicht gehört, und so kommt das zwei Stunden später in Ordnung. Der Patient nutzt die Zeit zu einem Ausflug ins Sektgefilde und das Prekariats-Ghetto.
Natürlich ist die versprochene Gehhilfe, wie fast immer, nicht da. Dieser Rollwagen wird von diversen Stationen genutzt und die Linke weiß nicht, wo es die Rechte versteckt hält.
„Wir machen Sie wieder mobil, der Physiotherapeut wird mit Ihnen üben“, hatte die Ärztin vormals getönt. Na, es gibt ja einen Handlauf. Das Wetter ist einigermaßen.
Aus diesem Grund geht er ins Freie, steckt sich eine Kippe an und hält sich an der Türklinke fest. So steht die Tür, je nach Bewegung, zwischen ein und drei Zentimeter offen.
Eine mittelalte Frau rollt einen leeren Aktenwagen vorbei, im Umkreis gibt es keine Patientenzimmer; ihr stecknadelgroßer Kopf läuft rot an, als sie den paffenden Wirbelbruch erspäht, und sie brüllt laut und vernehmlich: „Tür zu.“
Die vielleicht zwei Prozent des Rauches, die nach innen hätten dringen können, wären für die Dame sicher tödlich gewesen, bei der Größe ihres Hauptes, mutmaßt er und zieht die Tür zu.
Gestärkt durch zwei Piccolo macht er sich auf den Weg in heimische Gefilde und begegnet einer Leidensgenossin, ebenfalls Wirbel, ebenfalls Rollwagen fast nie da, und auch sie muss/soll flach liegen und im Stehen essen.
„Ich lege meist den Kopf auf den Nachtschrank, dann liegt er wenigstens ein bisschen höher.“
Das konnte kaum gesünder sein als in diesem Zustand Breakdance zu tanzen.
Quälix lässt grüßen.
Zurück im Zimmer gießt sich der immer stärker verärgerte Patient aus der kiloschweren Glaskaraffe Wasser ein. Ebenfalls ein sehr gesunder Akt, der die Wirbel jauchzen lässt.
Dann zieht er sich den krankenhauseigenen Videokanal rein.
Toll, was da abläuft. Er sieht und hört es mit Erstaunen.
Selbst private Gespräche seien rund um die Uhr möglich, und überhaupt wäre alles optimal.
Er überlegt, ob er im falschen Krankenhaus liegt oder ob die Filme aus der Zeit des Wirtschaftswunders stammten und von Normal 8 umgeschnitten wurden.
Nein, Geräte und Darsteller waren nicht alt genug. Blieb nur die Frage, was sich der Propaganda-Arzt und sein Team dabei gedacht hatten? Jeder konnte sich nach wenigen Stunden oder Tagen vom Gegenteil in diesem Krankenhaus überzeugen.
Wahrscheinlich machte aber keiner das Maul auf und fast alle sind von der Endheilung überzeugt.
Menschliche Betreuung; immerhin waren Western und Jerry Cotton-Hefte nicht verboten, aber wenn eines runterfällt, muss man auf die Putzfrauen warten, weil sich die Schwestern für so etwas zu schade sind.

Der Tag der Entlassung steht bevor und die Schlussgags ebenso. Er wird nochmals zum Röntgen geschickt, hatte aber inzwischen erfahren, dass dies auch im Stehen möglich sein sollte.
Also besteht er darauf. Nach einer kurzen Diskussion zwischen Hiwi und Hi-Hiwi ist dies auch möglich.
Nach einiger Zeit verkündet eine Ärztin, dass das Bild dem ersten Röntgenbild entspricht und somit alles in Ordnung sei. Völlig logisch! Auf dem ersten Bild hatten die diversen Weißkittel schon nichts erkannt und wenn dem jetzt auch so war, musste das Gutes bedeuten.
Er verkneift sich einen Kommentar und fragt stattdessen nach weiteren Mobilitätsübungen, was heißt weiteren, bisher hatte es keine solchen gegeben.
„Fragen Sie Ihren Hausarzt“, kommt prompt der Bescheid.
Sicherheitshalber würde er auch noch seinen Friseur und seine Putzfrau fragen, wozu sonst hat man Fachleute?


DIE GESCHICHTE DANACH

Ein Pro-forma-Anruf beim Hausarzt ergibt, dass er die Rückenschule auch nicht kennt und ihm die Klinik die Röntgenbilder nicht zur Verfügung stellen würde. Weniger sehen zu können, als die „Fachleute“ vor Ort, wäre ja auch nicht möglich gewesen. Patient, jetzt, dank der Krankenhauskost, nicht mehr ganz so dick, kümmert sich einen feuchten Kehricht um gegebene und nicht gegebene Ratschläge und wird überdurchschnittlich schnell gesund.
Das ist auch nötig, denn die ebenso vernagelten wie gewissenlosen Hausbesitzer weigern sich, Sprechanlage oder Türöffner in Betrieb zu nehmen. So muss der Pizzabote weiterhin an Haustür oder Hoftor in Empfang genommen werden.
Aber eine Weile kann man auch in Alcatraz überleben.