DIE ROTE MARY
Illustration Copyright © Crossvalley Smith

Delona stand nackt am geöffneten Fenster ihres Schlafgemachs und blickte hinaus auf das tosende Meer. Schon seit Tagen hatte sich das Unwetter angekündigt und die für das Land typische Schwüle unerträglich gemacht. Nun brachte der tosende Wind endlich wieder etwas Kühle und sauerstoffhaltigere Luft über die Stadt der Abenteurer und ihre Bewohner.
Delona schloss die Augen und hielt ihr ebenmässiges, altersloses Gesicht in den Wind, der beinahe zornig an ihren langen, dunklen Locken zerrte. Ihr schlanke, und dennoch wohlgeformte Gestalt hob sich so akzentuiert wie die Shilouette eines Scherenschnitts von der Dunkelheit ab – als würde sie von innen heraus leuchten.
Doch es schien ein unheilvolles Licht zu sein.
Delona genoss die kühle Brise auf ihrer Haut, die sie streichelte und ihr die Hitze aus dem Leib zog. Aber die Unruhe – dieses Drängen und Sehnen in ihr – konnte sie nicht lindern.
Das Unwetter brach nun mit aller Gewalt über die Stadt herein. Als wolle es ein nahendes Unheil ankündigen. Zackige Blitze spalteten den Himmel und durchfuhren die düsteren Wolkenwände, während dumpfes Donnergrollen über den Ozean rollte. Delona fröstelte es, doch es war ein angenehmer, stimmulierender Schauder, der wie zarte Geisterfinger ihren Rücken entlangfloss und jeden Einzelnen ihrer Wirbel abtastete. Delona gab sich dem Gefühl, das ihr das stürmische Element schenkte, hin, um sich und ihren Körper wieder besser zu spüren. Der letzte Freier hatte endlich ihren Tempel der Sinnesfreuden verlassen. Delonas volle Lippen verzogen sich zu einer verächtlichen Grimasse. Sie hasste es, dass sie manches Mal sogar ihren eigenen Körper feilbieten musste, wenn die Nachfrage nach lustvollen Spielen so groß war, dass ihre Mädchen sie nicht allein erfüllen konnten. Besonders wenn Handelschiffe im Hafen der Stadt ankerten waren die Freudenhäuser erste Anlaufstellen der Männer, die lange auf See gewesen waren.
Delona seufzte. Seit Sondra, die Herrin des Hauses der Lüste, sie in die Kunst der käuflichen Liebe eingewiesen, und Delona - als eine ihrer bevorzugten Konkubinen – sogar dabei behilflich gewesen war, eine weitere Stätte der Lust zu schaffen, fiel es Delona immer schwerer ihr wahres Ich zu verleugnen. Sie hatte sich zwar aus Sondras „Betrieb“ gelöst , weil sie es nicht mehr mit ihrem Stolz vereinbaren konnte, Nacht für Nacht schwitzende, keuchende, vom Met berauschte Männer auf jede erdenkliche Art zu befriedigen und – als kleines Übel – selbst die Herrschaft über bereitwillige Freudenmädchen übernommen. Aber das schale Gefühl in ihr minderte das nicht.
Delona seufzte. Sie stand nun zwar mit Sondra in Konkurrenz, aber die beiden unterschiedlichen Frauen verband eine enge Freundschaft und es gab mehr als genug von Gier getriebener Männer in dieser Stadt.
Delonas Gedanken schweiften ab, als sich ihr Blick an der schäumenden Gischt festsog, die sich an den Klippen brach und die schroff-zerklüpfteten Felsen emporschoss. Sie hatte das Haus bewusst gewählt, als sie es erstand – denn es musste ein Anwesen an der Meerseite sein, und durfte nicht an den restlichen Seiten der Stadt liegen, die von den unwegsamen Gebirgswelten umgeben waren. So hatte sie entzückt das Gebäude, das einen Blick auf den kleineren Fischerhafen erlaubte, erstanden – denn Delonas Verbindung an den Ozean war eine enge und tief verwurzelte.
Wie sehr vermisste sie das Meer und ihr altes Leben – ihr eigentliches Leben, vor ihrer „Wiedergeburt“ – als sie noch Mary war ...

***



1703
Mary eilte keuchend die ausgetretenen Stiegen empor und rief noch im Lauf, wie es ihrer ungestümen Art entsprach: „Ma, bist du da? – Ma?“ Mary versetzte der wurmstichigen Tür einen derben Tritt, der diese beinahe aus den Angeln hob, und in den Raum trieb. „Ich fahre zur See!“
Der Satz schwebte wie ein dunkler Odem durch den kärglich eingerichteten Raum.
Marys Mutter hob ihren Kopf, den sie über die Näharbeit, mit der sie sich einen kümmerlichen Lohn verdiente, gesenkt hatte. In ihrem Blick schwelte genau das, was Mary befürchtet hatte. Sie wusste, wie ihre Mutter darüber dachte, seit Marys Vater, der als Matrose angeheuert hatte, nicht mehr zurückkehrte. Die See war seine Geliebte gewesen und hatte ihn schlussendlich nicht mehr freigelassen.
„Mary, wie oft sollen wir noch darüber streiten? Frauen auf See, das bringt Unglück. Das weißt du. Dich wird ohnehin keiner anheuern.“
„Als Frau nicht, aber wer sagt dir, dass ich an Bord gehe und mich als solche zu erkennen gebe?“ Sie deutete auf ihren sauberen, aber geflickten Straßenanzug, den sie während ihrer Botendienste trug. Marys Miene verfinstere sich dabei. „Ich habe es satt ein Laufbursche zu sein!“, stieß sie trotzig hervor.
Ihre Mutter unterdrückte einen Seufzer. Wie sehr Mary ihrem Vater glich! Auch in ihrer aufsässigen Art. Sie wusste, es war zwecklos ihre Tochter aufzuhalten, dennoch versuchte sie es ein letztes Mal: „Kind, du bist nicht einmal vierzehn Jahre alt ... und eine...“
„Wenn du mir jetzt wieder damit kommst, dass ich eine Frau bin, schreie ich!“, kündigte Mary mit blitzenden Augen an – und ihre Mutter wusste, dass dies keine leere Drohung war. „Du selbst hast mich wie einen Jungen erzogen, weil wir in einer Männergesellschaft leben und ich es somit leichter habe!“
Marys Mutter hatte mit dem Argument gerechnet, das ihre Tochter in jedem Streitgespräch einbrachte, weil sie wusste, dass ihre Mutter nichts dagegenzuhalten hatte.
So auch jetzt.
Zufriedenheit glitzerte in Marys Blick als sie in die kleine Kammer trat, in der sie ihre wenigen Habseligkeiten aufbewahrte, und dort aus einer Truhe einen alten Seesack hervorzog, den sie sorgsam zu packen begann.
Eine Bewegung hinter ihr verriet, dass ihre Mutter ebenfalls eingetreten war. „Kind...“, begann sie erneut, doch als sich Mary abrupt zu ihr herumdrehte und sie zornig anblickte, schloss sich ihr Mund wieder und ließ keinen weiteren Laut frei. Sie wusste, Mary würde gehen. Furcht befiel sie, dass sie auch ihre Tochter an das Meer verlieren würde.
Und Marys folgende Worte nährten ihre schlimmste Befürchtung: „Ich habe auf einem Kriegsschiff angeheuert – die brauchen dort jeden MANN!“

***



Delona seufzte und ein dunkler Schleier legte sich vor ihre Augen. Wie immer, wenn sie der Alp der Erinnerung heimsuchte und marterte. Wie viele Leben hatte sie seitdem gelebt? Wie viele würden es weiterhin sein – bis ihre Seele Frieden fand? Und wie gefärdet würde ihr Leben in dieser Stadt sein, wenn gewahr würde, welche Seele in ihr schlummerte? Immerhin waren die Piraten nach wie vor, die, die den Seeweg hierhin unsicher machten. Doch Delonas Gedanken schweiften bereits wieder ab, bevor sie eine Antwort auf die Fragen fand ...

***



1716
Mary blickte auf den frischen Grabhügel, der die sterblichen Überreste ihres Mannes bedeckte
Sie hatte Max Studevand kennengelernt, als sie die Seefahrt aufgegeben hatte, um sich dem Heer anzuschließen, das in Flandern kämpfte.
Mary lächelte versonnen als sie an den Augenblick dachte, in dem sie sich in Max verliebte und ihm offenbarte, dass sie kein Mann war, sondern eine Frau. Wie glücklich war sie, als sie bemerkte, dass er ihre Gefühle erwiderte. Mehr noch, wie stolz er auf sie war, weil sie während des gemeinsamen Gefechtes tapfer an seiner Seite gekämpft hatte.
Sie erinnerte sich noch an das warme Kribblen, das sich aus ihrer Magengegend tiefer in ihren Schoß bewegte, als er sie das erste Mal ausgiebig und voller Liebe und männlicher Gier küsste. Fast als wolle er sie verschlingen, damit sie nur ihm gehörte.
Mary schloss die Augen und meinte noch sein, zwischen den Küssen atemlos hervorgestossenes. „Kleine, tapfere Mary“, zu vernehmen. Wie süß klangen diese Worte und wie bitter war nun das Gefühl in ihr, dass er sie alleingelassen hatte Kälte breitete sich in ihr aus, als habe Max jegliche Wäme aus ihr heraus mit in sein dunkles Grab genommen.
Sie musste fort. Fort von hier und seiner letzten Ruhestätte.
Als sie sich in immer schneller werdenden Schritten von dem kleinen Friedhof mit den verwitterten Steinkreuzen wegbewegte und nach Hause lief – zurück zu dem Gasthaus, das sie und Max sechs Jahre, seit ihrer Heirat, geführt hatten. Sie blieb vor dem Gebäude stehen und betrachtete mit Wehmut das schmiedeeiserne Schild, das leicht im Wind schwang. „Three Horseshoes“, murmelte sie und der Schmerz über den Verlust ihres Mannes würde übermächtig. „Ich kann hier nicht bleiben, Max“, flüsterte sie und ließ einen erstickten Aufschrei folgen.Dann kehrte sie beinahe fluchtartig in ihre Privatgemächer zurück und förderte aus der untersten Schublade ihres Wäscheschrankes ihren verstaubten Seesack hervor. Der, der sie schon ihr Leben lang begleitet hatte.
Es war wieder an der Zeit, sich dem Rhythmus des Meeres anzuvertrauen, seinem Ruf, dem sie immer wieder folgen musste.

***



Mary schlüpfte in die derbe Männerhose, steckte sich das Hemd ihres verstorbenen Mannes in den Bund, und bauschte es über den Gürtel, auch um dadurch ihr schmale Taille zu verbergen. Ein amüsiertes Schmunzeln huschte über ihre Gesichtszüge. Wie oft war sie schon in die Rolle eines Mannes geschlüpft. Und wieder einmal war es soweit. In einigen Stunden würde sie an Bord des Schiffes eines holländischen Sklavenhändlers anheuern – Kurs: die Karibik.
Auch wenn sie dem Sklavenhandel eher ablehnend gegenüberstand, hatte sie keine große Wahl gehabt.
Mary ergriff beherzt eine Schere und schnitt sich das lockige Haar kurz, so dass es in kecken Wellen von ihrem Kopf abstand und ihre feurigen Augen noch mehr zur Geltung brachte. Mary verzog ihre vollen Lippen zu einem zufriedenen Grinsen, dann nahm sie die Schirmmütze ihres verstorbenen Mannes und setzte sie auf - die Verwandlung war perfekt!


Die Schleier der Erinnerung verzogen sich wieder vor Delonas Augen und ließen einen Blick auf das aufgewühlte Meer frei. Wie sehr sie es liebte! Und wie sehr sie es vermisste, sich seiner unendlichen Weite hinzugeben und seiner launigen Natur zu trotzen! Sie war nicht geschaffen für das Landleben – zumindest nicht auf Dauer.
Delona trat vom Fenster weg an das breite Bett mit dem Baldachin, das beinahe den gesamten Raum einnahm. Dort lag der seidige bodenlange Kimono, den sie ergriff und überzog. Mittlerweile war es so kühl, dass sie fröstelte. Während sie den Gürtel enger um ihre schmale Taille zog, ging sie bereits wieder an das Fenster zurück. Der Sturm war mitterweile orkanartig angeschwollen und steigerte die Sehnsucht in Delona noch. Sie dachte an Anne, an die schicksalhafte Begegnung mit ihr und dem Piraten Calico Jack Rackham, auf dessen Schiff sie gewechselt hatte, nachdem er mit seinen Männern das Sklavenschiff, auf dem sie angeheuert hatte, angriff. Sie fühlte sich wohl unter den Piraten, fast so, als wäre sie endlich nach Hause gekommen. Und dann sah sie Anne – Piratin und eine von Calicos besten Leuten.
Delona stieß ein amüsiertes Lachen aus, als sie daran dachte, wie sich Anne in sie, den vermeintlichen – und gutaussehenden – Mann verliebte und an den besonderen Moment, als sie sich der Piratin anvertraut und ihre wahre Identität zu erkennen gab.
Wie viele Gemeinsamkeiten waren doch zwischen ihnen!
Annes Vater hatte als verheirateter Jurist ein Verhältnis zu einer Dienstmagd gehabt, das nicht ohne Folge blieb, er jedoch zu vertuschen suchte. Wie es zur damaligen Zeit üblich war. So war auch Anne als Junge verkleidet aufgewachsen. Dennoch konnte ihr Vater seinen Fehltritt nicht auf Dauer vertuschen und er wurde bald beruflich geächtet, worauf er in den USA eine Plantage erwarb, die Dank guter Bewirtschaftung Wohlstand über die Familie brachte. Delona kicherte leise vor sich hin, als sie an Annes Schilderungen dachte, über die Zeit, in der sie zur jungen, schönen Frau reifte und mit den Männern kokettierte, wurde sie aber von denen belästigt, gebot sie ihnen handkräftig Einhalt. Delona grinste schadenfroh, sie konnte sich lebhaft Annes feste „Handschrift“ vorstellen, die sie diesen Männern zuteilwerden ließ. Die Freundin war nicht zimperlich gewesen. Gegen jedemann. So konnte Delona auch nachempfinden, wie groß Annes Hass auf den Vater gewesen war, als dieser Anne verstieß, nachdem sie den Piraten James Bonny geheiratet hatte. Ob sie tatsächlich aus Zorn die Plantage ihres Vaters niedergebrannt hat?, fragte sich Delona und Annes lachendes Gesicht erschien vor ihrem geistigen Auge.
„Anne“, flüsterte Delona und eine Welle der Schmerzes durchzog sie, der so frisch war, so brennend, als wäre er ihr erst gestern zugefügt worden. Dabei lag es so lange zurück und dennoch würde er nie vergehen. Delona wusste, dass es Wunden gab, die keine Zeit heilte. Egal wie lange sie währte ...

***



17. November 1720, St. Jago de la Vega
Mary starrte durch die schmale vergitterte Fensteröffnung auf den Hof hinaus, auf dem schon vor Tagen die Galgen errichtet worden waren. Dort sollte sie an diesem Tag zusammen mit Anne, Calico Jack und seinen Männern, zu denen auch ihr zweiter Ehemann gehörte, baumeln. Der Vater ihres ungeborenen Kindes würde heute mit den Kameraden den Tod finden – und sie wollte dabei sein, wollte mit ihnen „gehen“. Sie wollte neben ihrem Mann zusammen ihr Leben lassen. Doch das wurde ihr verwehrt. Mary wusste nicht wie lang sie die letzten Tage in der Kälte an diesem Fenster gestanden und auf die Galgen gestarrt hatte. Barfüßig auf kaltem Gestein.So lang, bis schließlich die Kälte ihre Beine hinauf in ihren Körper gekrochen war, in jede Zelle, bis sie sich starr und tot fühlte.
Glühende Hitze hatte danach von ihr Besitz ergriffen und ihr das Fieber geschickt, das nun ihre eigene Hinrichtung verhinderte. Sie fragte sich jedoch nach dem Sinn, denn welchen Unterschied machte es, ob man eine Gesunde hängte oder eine Kranke? Welchen Unterschied machte es für das Überschreiten der Schwelle zum Tod?
Keinen.
Mary hegte, seit man ihr verkündete, ihre Hinrichtung sei verschoben worden, die Vermutung, dass man sich scheute eine Schwangere zu richten.
Wieder dachte sie an an ihren Mann, an ihre Hochzeit und das Gefühl nach dem Tod ihres ersten Gemahls, endlich wieder einen Menschen gefunden zu haben, zu dem sie gehörte und mit dem sie die alles überlagernde Liebe teilte – die Liebe für die See und das Leben in Piraterie..
Wie kurz nur währte ihr zweites Glück, denn schon bald war die “Revenge” vor den Küsten Jamaikas von einem Kriegsschiff angegriffen worden. Die Schmach, als die gefangengenommen wurden, milderte nur der Gedanke daran, dass sie und Anne Seite an Seite und wie jeder Mann gefochten und sich nicht kampflos ergeben hatten. So wie sie es immer getan hatten. In all ihren Kämpfen hatte Mary viele Gegner durch einen fairen Zweikampf besiegt, was ihr den Namen „Blutige Mary“ eingehandelt hatte.
Mary schloss die Augen, es war ihr schon nicht vergönnt, im Kampf zu sterben, daher wollte sie es wenigstens an der Seite ihrer Gefährten - durch das Henkersseil. Aber auch das blieb ihr verwehrt.
Als sie die gefesselten Gestalten sah, die auf den Innenhof geführt wurden, umklammerten ihre Hände die Gitterstäbe so fest, dass sie meinte ihren Finger würden brechen. Ihr Blick sog sich an dem Gesicht ihres Mannes fest und die Zeit blieb stehen – bis auch sein Herzschlag zum Stillstand kam.
Mary fuhr mit einem erstickten Schluchzen von dem Fensterschacht weg und sank auf die harte Pritsche. Sie konnte den Anblick der im Tode zuckenden Kameraden, die nun – mit aus den Mündern hängenden Zungen und gebrochenen Genicken – im Wind baumelten, nicht mehr ertragen. Besonders Annes gekrümmte Gestalt und der Leichnam ihres Mannes brannten sich in Marys Gedächtnis ein.

***



28. November 1720, St. Jago de la Vega
Die Hitze des Fiebers fraß sich wie Feuerzungen durch ihr Inneres, umzüngelte auch ihr ungeborenes Kind – das nun nie das Licht der Welt erblicken sollte. Das erkannte Mary, auch wenn sich ihr Geist längst mehr und mehr verschleierte, das Bildnis ihres toten Mannes verblassen ließ und ihr stattdessen eine furchteinflößende Gestalt suggerierte. Jene, die ihr visionär auch oft auf See erschienen war, im Kampf, wenn Krankheiten sie marterten oder sie sich nach einem Gefecht im Wundfieber wand.
Mary war des Kämpfens müde, jetzt wo ihre Gefährten -– ihre Familie – den Tod durch den Strang gefunden hatten. Sie wollte von diesem Leben loslassen, bei ihnen sein, ihren Geist übergeben – an welchen Gott auch immer. Sie ahnte dunkel, welcher es sein würde – und richtig:, bevor der Schmerz ihr Bewusstsein gänzlich auslöschte, fühlte sie sich hochgehoben und fortgetragen und eine dunkle Stimme säuselte maliziös. „Die Seele deines ungeborenen Kindes für dein neues Leben.“
Sie nickte mit letzter Kraft – und roch die salzige Luft des Meeres ... und kehrte heim.


Delonas Blick löste sich von den Urgewalten des Ozeans, der immer noch von dem Sturm gepeitscht wurde. Sie löste sich von den dunklen Tiefen darin, die noch immer der wahre Ursprung ihrer alten Seele waren und seufzte sehnsüchtig. Sie vermisste das Meer und ihr altes Leben, den Seewind, der ihr steif um die Nase strich und die abenteuerlichen Gefahren an Bord. Doch sie durfte nicht mit dem Schicksal hadern, denn es hatte ihr ein zweites Leben geschenkt. Dennoch verlor sie hier an Land immer mehr ihre innere Mitte. Sie war Piratin, eine Kämpferin – keine Hetäre, die sich dekadent in Seidenlaken räkelte.
Delona warf einen letzten Blick aus dem geöffneten Fenster und schloss es. Dann drehte sie sich herum, trat an eine Kommode, deren untere Schublade sie öffnete und einen Stapel Wäsche anhob – darunter lag ein verblichener Seesack.
Es war wieder an der Zeit!

***



Mary Read – ( *1690 in London, England; † 28. April 1721 in St. Jago de la Vega, Jamaika) war eine englische Piratin und Freibeuterin.

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