Erinnerungsschub

Wenn ich Leuten nach einer langen Zeit wieder begegne, die dann mein Alter zu schätzen versuchen, so halten sie mich zumeist für wesentlich jünger, als ich tatsächlich bin. Und wenn sie dann hören, dass mich deren Einschätzung zwar ehrt, doch um einiges fehlgeleitet zu sein scheint, dann blicken sie mich mit einer Mischung aus offener Verwunderung und verhohlener Empörung an und sagen so etwas wie: »Das hätte ich nun aber wahrlich nicht gedacht. Sechsundzwanzig. Nein, wirklich nicht. Doch! Das ist ein schönes Alter.« – »Ja, das ist es«, sage ich, ohne davon wirklich überzeugt zu sein, denn ich vertrete von jeher die Meinung, ein Alter ist so gut wie das andere. Und ich meine das wirklich so, denn ich kann mich sehr gut an all die Alter meines kurzen Daseins entsinnen und ein jedes ist mir irgendwie im Gedächtnis geblieben. Wie es dabei für Erinnerungen üblich ist, blieben vor allen anderen Dingen die schönen und guten Momente lebendig, dicht gefolgt von den schlimmsten. Ich meine, ich war gerne zwölf. Dennoch wünsche ich mich nicht in jene Zeit der Madenzwillen und Bauernhöfe zurück. Mir klingt noch das Klacken der Blechdosen im Ohr, wenn wir auf jene mit den Madenzwillen unreife Pflaumen abschossen. Das ist hinter dem Spritzenhaus gewesen. Das war solch ein roter Backsteinbau, der zwei mausgraue, riesige Tore an der Vorderseite und einen kleinen Glockenturm auf dem Dach aufwies. Dahinter begann dieses kleine Waldstück, welches die Straße von den Gehöften dahinter trennte. Links vom Weg, der sich durch den Hain schlängelte und später die Anwesen verband, befand sich ein Abhang, eine steile, hohe Böschung, die in dem Rinnsal eines Baches mündete und von dessen Wasser ich bereits einige Male gekostet hatte, und sei es auch nur, sintemal ein stärkerer Bursche wieder einmal jemanden zum herumschubsen gebraucht hatte. »Hinrich ist gut dafür, Hinrich taugt«, riefen sie dann und ich versuchte zu fliehen, schon während mein Name erscholl. Doch da hielten sie mich bereits an meinen Hosenträgern fest und riefen weitaus erfreuter noch: »Hinrich taugt, Hinrich taucht.« Ich sagte soeben noch ganz altklug: »Da kann man nicht tauchen, der Bach ist viel zu flach.« Doch da flog ich auch schon, kugelte die Böschung hinunter und landete in dem dreckigen, dunklen Wasser des kleinen Bachlaufs, der das Aussehen eines Blitzes besaß. Und als ich dort lag und aufblickte, in einem Anflug von Belustigung und Beschämung selbst zu lachen begann, da sah ich die Jungs alle dort oben stehen und daneben, mit den ihr typischen blonden Zöpfen, die ewig tänzelnde Marguerite, die ich für eine ausgemachte falsche Prophetin hielt. Um es auf Richtigkeit zu prüfen, da war ich noch nicht nah genug an sie heran gekommen, auch wenn ich es oftmals versucht hatte. Nun, da ich sie sah, verging mir das Lachen, welches auf einmal brackig und erdig schmeckte. Lachte sie etwa auch über mich? Ich konnte es nicht klar sehen, ebenso wenig wie ihre Augen und den kleinen, vorlauten Mund, von dem schon viele Jungs gekostet hatten. So sagte man zumindest. Es spielte in Wahrheit kaum noch eine Rolle, ob sie auch lachte. Nein, spielte es nicht. Ich stand itzt einfach auf und gewann meine verlustig gegangene Sicherheit wieder, wenn ich den Abhang in die Höhe stieg. Man konnte sein Ansehen schließlich auch in der Belustigung anderer wahren. Unverzagt stand ich also auf und bestieg meine Anhöhe der Läuterung und wusste, wenn ich erst oben angekommen war, würde mir auch eine gute Bemerkung zu dem Unglück einfallen. Es musste einfach so sein. Und als ich oben angekommen war und die Hände in die Taille stützte, um den Lästerern so richtig einen zu versetzen, da merkte ich viel zu spät, dass das Gewicht der nassen Kleidung an mir zog, und offenbar auch an meiner viel zu großen Hose, die ich immer von meinem großen Bruder auftragen musste und mit einem geflochtenen Strick zusammenzubinden pflegte. Doch durch die Feuchte hatte sich der Strick soweit gelockert, dass die Hose zu meiner eigenen Verlegenheit, zu meinen Fesseln hinunter sank. Ich dachte nur, dass es unmöglich angehen mochte, soviel Missgeschick an einem Tage zu haben. Konnte das nicht einmal anderen vor mir passieren? So dass ich der lachende Dritte sein konnte? Ich sah zu meiner Hose hinab und fand sie wie die Arme einer viel zu kleinen Schwester, die meine ganz und gar männlichen Fußfesseln umschlangen, um sich ein Spiel daraus zu machen, dass ich nicht laufen konnte. Dann sah ich wieder in die lachenden Gesichter der Burschen, deren Wangen gesund gerötet waren. Der Sitz ihrer Hemden und Pullover war vortrefflich, gerade so als hätten ihre Mütter, noch bevor sie das Heim verlassen hatten, an ihnen zurecht gezupft und glatt genestelt, was es zu richten gegeben hatte. Doch auch Marguerites Wangen waren rosig und ihr Lachen klang wie das Geläut der Feuerglocke im Spritzenhaus. Ihre Zöpfe muteten wie feist geflochtene Stricke an, die jeder Takelage eines Schiffes zur Ehre gereicht hätten, und sie glänzten im Gelb klebriger Hörnlinge, die in den Wäldern ringsum auf dem Waldboden an morschem Holze wuchsen, während mir ihre strahlend weißen Zähne wie immer unglaublich makellos und wundervoll erschienen, weiß wie der seltene Würfelzucker, den es von Zeit zu Zeit zum Tee gab. Eben da aber gedachte ich meiner weißen, gerippten Unterhose, die diesen unnötigen Eingriff hatte, der für mich ohnehin keinen rechten Nutzen zu haben schien – herrje, im Grunde musste ich froh sein, dass jene Schlüpfer nicht auch von meinem älteren Bruder stammten. Also versuchte ich zu lächeln. Und es waren eben Situationen wie diese, die ich nicht zu dulden bereit war, denn sie kränkten nicht nur den Mann in mir, sondern verletzten auch mein Selbstgefühl. Es kam einer Herausforderung gleich, die edle Herren mit einem Duell zu beantworten gewusst hätten, jedoch standen mir weder Schusswaffen noch Degen zur Verfügung, wie es einem edlen Weltenmann geziemt hätte. Ich griff nach meiner Hose und zog sie in die Höhe, zurrte eilig den Strick fest, als vertäute ich eine schwere Ladung an dem Schiff mit der strohblonden zweckentfremdeten Takelage und rief: »Euch komme ich noch!« Verdrossen schob ich meine Hände in die tiefen Taschensäcke und schlurrte zu den Gestaden finsterer Rachepläne. Meine klebrigen Finger spielten in den Hosenbeuteln und verfingen sich in dem feinen Sand, der sich dort zumeist befand, sintemal es jedem interessanten Schatz eigen war, dass er am Boden im Drecke lag und geborgen werden wollte. Und wenn er dann in den Taschen gereinigt worden war, konnte man ihn vielleicht gegen andere Dinge eintauschen. Nahe den Tränen über die Schande, die ich empfand, spielte ich mit der Leere der Taschen und dem Sand darin, bis er mich auf eine unglaubliche Idee brachte.