Dilara auf den Spuren der Vergangenheit

Am Vordereingang des Maison de Vervins schloß sich ein Vorhof an, auf dem noch immer das einsame Gepäckstück stand, welches Cippico hierher verfrachtet hatte. Als Dilara aus dem Haus trat, fand sie nur den großen Koffer vor und von Cippico und Kyuzaemon gab es keine Spur. Das beunruhigte Dilara natürlich sehr, denn wenn der Nosferatu erkannt hatte, was sich in dem Koffer befand, so war ihnen seine Wut sicher. Andererseits, wenn sich Kyuzaemon geweigert hatte, das Gepäck zu seinem Herrn zu transportieren, hätte Cippico es sicher nicht aus den Augen gelassen.
Dilara ging zu dem Koffer, um an ihm Hinweise darauf zu finden, ob er geöffnet worden war, doch er sah noch immer verschlossen aus. Sie probierte die Schnappschlösser und fand sie verriegelt. Sie schaute sich um, und wohin das Licht der Leuchten am Eingang nicht reichte, da half ihr die Kraft, in der Nacht besser sehen zu können. Doch der kleine Hof war aufgeräumt, das Pflaster gefegt und Türen und Gatter sorgsam geschlossen.
Dilara lief zum gußeisernen Zaun und spähte auf die schmale Gasse, die dahinter größtenteils im Dunkeln lag. Man konnte den Eindruck gewinnen, die meterhohen Mauern des Papstpalastes würden einen schweren Schlagschatten auf alles werfen, das nicht an ihre Höhe herankam. Und doch warfen sie ein entferntes Echo durch die Gasse und es klang sehr nach Stimmen. Dilara öffnete das Tor und schlüpfte auf die Straße. Sie folgte dem Widerhall, von dem sie nicht zu sagen wußte, ob es sich um das Gespräch von Passanten oder um Cippico handelte.
Jedoch wandelte sich der Schall in Aufregung und Schritte, so daß Dilara schon die Ahnung hegte, es könne sich nur um die Gesuchten handeln, die offenbar in offenen Streit geraten waren. Sie ging auf die Mündung der Gasse zu, an deren Ende eine Gaslaterne stehen mußte, denn ihr heller Schein schien die Dunkelheit in der engen Straße versiegeln zu wollen. Und nach einem weiteren Dutzend Schritten bog Cippico um eine Mauerecke in die Gasse ein und winkte Dilara bereits aufgeregt zu, um ihr anzuzeigen, sie solle sich ebenfalls zurückziehen.
Und im nächsten Moment schoß der Schatten einer riesigen Fledermaus in die Gasse. Die Spannweite seiner ledernen Schwingen überschattete die gesamte Breite der Straße zwischen Hotel und Palast. Der Körper der Fledermaus wirkte gering und ging in der Dunkelheit, die an dem Tier zu haften schien, weil es den Schein der Laterne hinter sich hatte, fast unter. Es mutete im Gegenlicht an, als bestünde das Wesen nur aus Schwingen. Im Landeanflug nun versuchte es seine ausgestreckten Krallen in Cippico zu schlagen, doch Dilara trachtete es zu vereiteln, indem sie sich eilte, ihren Diener zuvor zu erreichen und sich dann um ihn zu schlingen. Sie schaffte es soeben noch. Durch ihr Kleid und Schuhwerk war große Eile riskant, und sie mußte sich sehr auf ihre Bewegungen konzentrieren, um nicht zu fallen.
Die Krallen der Fledermaus rissen durch die Luft und fauchten dicht an Dilara vorbei.
'Wir müssen zurück ins Hotel', knirschte Dilara.
'Verfluchter Hund, er hat mich überrascht.'
Die Riesenfledermaus gewann schnell wieder an Höhe, wendete geschmeidig und ließ sich in die Gasse zurückfallen.
'Die Idee mit dem Koffer war keine gute', zürnte Dilara.
Cippico knurrte etwas, das unverständlich blieb.
'Schnell!' meinte Dilara und drückte ihren Diener durch das Tor des metallenen Zaunes. Dann baute sie sich davor auf und schaute dem riesigen Flugsäuger entgegen, der aus der Höhe heraus an Geschwindigkeit gewann und auf sie zuraste. Und als das düstere Ungetüm herangerauscht kam und mit seinen eckigen Flügeln die Luft zerschnitt, wandelte Dilara ihre Gestalt in den feinen Dunst eines Nebels und trat durch die Gitterstäbe des Zaunes in die fragliche Sicherheit dahinter.
Der fliegende Riese pfiff laut und mit großem Entsetzen, schlug hernach aber mit lautem Krachen gegen die Gitterstäbe. Es knallte und drei Stäbe brachen wie Holz, blieben aber dank der Querverstrebungen an ihrer Position.
Derweil wandelte sich Dilara in ihre Gestalt zurück und griff flugs durch die Gitterstäbe, erfaßte den pelzigen Schatten und riß ihn ein weiteres Mal vor das Gitter. Die Riesenfledermaus kreischte und fauchte, als sie gegen den Zaun dröhnte. Aus nächster Nähe wirkte ihr pelziger Körper ölig und borstig, schmal und zu klein für die riesig anmutenden Flughäute, die sich zwischen den bleichen Knochen spannte. Ihr Kopf hatte kleine, schwarze Augen, einen verwachsenen Hautlappen an der Nase und ein Maul voller messerscharfer Schneidezähne, die versuchten, sich in Dilaras Arm zu verbeißen, und war als solches voller widerwärtiger Gier nach Blut.
'Kyuzaemon, laß ab, sonst endet es hier und gleich.'
'Progenies!' kreischte der Nosferatu und brandmarkte Dilara damit in aller Abfälligkeit als Abkömmling, als nicht vollwertig, als minderbemittelt.
Jetzt riß Dilara ein weiteres Mal an der Riesenfledermaus, die auf ihren Flügeln zu stehen versuchte, und ließ das Ungetüm ein weiteres Mal gegen die Gitter knallen. Auch sie verfügte über die ungeheuerlichen Kräfte der Blutsauger, so daß einer der geborstenen Stäbe von seiner Verstrebung brach. Als sie den Gegner ein weiteres Mal an das Gitter zu zerren trachtete, zerfiel ihr der Widersacher im Griff zu einem Rudel fiepender Ratten, die sogleich das Weite suchten.
'Allez! À la maison ', meinte Cippico.
Dilara erhob sich und als sie sich umwandte, sah sie Cippico erstarrt vor dem Koffer im Hof stehen, woraufhin die Lähmung auch sie ergriff.
Der flache Deckel des Koffers war geöffnet und das Gepäckstück selbst geleert...