Leseprobe: SCHWARZE SCHMETTERLINGE von Karl-Georg Müller

Zwei Körper umklammern einander, zehn Finger spinnen ein Netz. Die Körper schenken sich Wärme, die der eisige Nordwind nach dem Wintereinbruch raubte. Sprödes Holz knistert im Kamin, nur ein samtener Lichtschein hüllt die Liebenden ein. Rion bedeckt das Gesicht seiner Geliebten Kayla mit tausend kleinen Küssen, zaubert ihr den Glanz, den er so liebt, in die Augen.
Kayla umschließt seine harte Männlichkeit mit den Oberschenkeln. Sie lächelt aufreizend, dann führt sie ihn an ihre hungrige Grotte. Rion beißt ihr neckisch ins Ohrläppchen. Sie schreit spitz auf, greift fester zu, sodass er aufbegehrt. Aber nur einen flüchtigen Augenblick, denn ihr Lächeln besänftigt ihn sofort wieder. Zärtlich leitet sie ihn weiter auf dem Pfad in ihren seidenweichen Leib. Mit seinem Lustsaft benetzt sie die Schamlippen, um sich mit einem Seufzen endlich für ihn zu öffnen. Sie schenkt Rion ihren Körper, und er genießt es. Die beiden bewegen sich mit der Anmut von Adlern, gleiten dahin und umkreisen sich, und sind doch nichts als zwei Liebende, die ihre Flügel ausbreiten, um durch die Sphären zu gleiten.
Plötzlich schlägt Kayla ihre Finger tief in Rions Fleisch. Sie starrt ihn an, erschreckt und gepeinigt. Die Gesichtszüge verzerren sich wie nach dem Schlag einer groben Hand. Sie presst ihren Körper an Rions Brust, Bauch, Unterleib, bis es schmerzt. „Rion, halt mich fest!“ Und Rion gehorcht, und mehr als das. Er stößt sein Glied weit in sie und raubt ihr mit seinem Gewicht die Luft. Sie stöhnt unter der Gewalt, aber sie wehrt sich nicht. Ihr Atem zischt vor Lust. Langsam bewegt sie sich, Haut reibt hart an Haut, er dringt tiefer in sie ein und entzieht sich ihr wieder. Rion verstärkt den Druck auf ihren Leib, spannt seine kräftigen Muskeln an. Sie antwortet mit einem Schnurren. Er gräbt seine Finger in ihr weiches Fleisch.
Dann geschieht es.
Kayla regt sich nicht, liegt ruhig auf ihm. Sie stöhnt. Das Feuer flackert im Hintergrund, und vor dem Licht beginnen kleine Schatten zu tanzen, tauchen hinab, schweben als wirres Knäuel auf Rion zu. Sie senken sich sanft wie ein Kuss auf seine Lippen und streicheln sie. Sie schmecken süß und bitter zugleich, und doch saugt er sie ein, und er genießt es.
Die Schatten springen in sein Herz, überwältigen ihn mit ihrer Lieblichkeit und den Träumen, die sie ihm schenken. Er kommt in Kayla. Unendliche, wohligwarme Schübe. Und Kayla biegt ihren Leib, und noch mehr Schatten brechen aus den zehn kleinen Wunden hervor, die Rion ihr zugefügt hat. Dann liegt Rion still. Er seufzt befriedigt. Kayla lächelt ihn an.

***

Er trieb die Axt mit einem heftigen Schlag in den Hauklotz. Kayla stapfte mit einem dampfenden Becher durch den Schnee, der sich in der vergangenen Nacht federleicht auf die Wiese vor ihrem Haus gelegt hatte.
„Liebster, das Holz reicht für diesen und den nächsten Winter.“
Rion warf die letzten Scheite auf den Haufen, dem der Geruch von Holz und Laub anhaftete. Er strich sich die schwarzen, von Schweiß nassen Haare aus der Stirn, nahm den Becher an und pustete die Hitze in die kalte Luft.
„Der schmeckt wieder gut“, lobte er nach dem ersten Schluck.
Aber er seufzte, denn trotz der Worte seiner Frau lagerte noch ein großer Stapel Baumstrünke, der vor den richtig kalten Tagen zerkleinert werden mussten, auf dem Boden. Trotzdem, für heute reichte es. Er schulterte die Axt und griff seine Frau um die Hüften.
„Es wird in der Nacht keinen Schnee mehr geben, ich schichte das Holz erst morgen auf. Der Abend soll uns beiden gehören.“
Das Wolkengeflecht am Horizont aber kündigte den nächsten Schnee an und strafte seine Worte Lügen. Kayla spürte seine Unruhe und seine Hand, die sie fester hielt als sonst und ihr fast die Luft nahm.
„Rion, was ist mit dir?“, doch er winkte ab. Er roch den Schnee. Und etwas anderes, nicht Greifbares.
Ein Haufen Scheite heizte dem Haus kräftig ein, die Flammen schlugen hoch. Rion befreite sich von Handschuhen, Kappe und Überwurf. Seine Stiefel saßen fest wie Schlingpflanzen, Kayla zerrte sie mit Mühe von seinen nassen Strümpfen. Mit einem lauten Lachen setzte sie sich auf den Hintern, den linken Stiefel triumphierend in den Händen. Sie sah wieder verführerisch aus, wie ihre ungezähmten Zöpfe in ihr weiches Gesicht flogen und sich ihre Brüste, zwei Halbmonde im Feuerschein, in ihrer Blässe scharf vom dunklen Kleid aus Wolle abhoben. Und dazu ihr Lachen, mit dem sie selbst einen Mann wie ihn erweichen konnte.
Er liebte sie.
„Setz dich gleich an den Kamin, Liebster, sonst krabbelt dir die Kälte noch in den Hintern.“ Sie schrie spitz auf, als Rion ihr halb strafend, halb neckend auf ihren Po klatschen wollte. „Untersteh dich, du Grobian“, jauchzte sie. Mit zwei Fingern strich sie eine Haarsträhne von den Augen und rückte den Sessel mit den dunkelroten Polstern vor die Feuerstelle. „Komm schon, und leg die Füße hoch!“
Rion wehrte sich nicht. Er brummte schläfrig, als Kayla ihm den Schemel unter die Beine schob, und dachte an den Abend, den sie sich beide gönnen wollten. Dann schlief er ein.

***

Der Schrei jagte ihm durch alle Glieder. Augen aufreißen und aufspringen waren eins. Das Kaminfeuer spuckte die letzten Flammen aus, es war bis auf einen Rest Glut niedergebrannt. Im Wohnraum brannten keine Kerzen mehr, selbst das Herdfeuer spendete weder Hitze noch Licht.
Jetzt hörte er es wieder, diesmal leiser, unterdrückt. Kayla – es war ihr Gewimmer. Und es musste aus dem Schlafzimmer kommen. Rion machte zwei, drei Schritte durch den Raum, seine Gestalt warf flüchtige Schatten an die Wand. An der Tür zum Schlafgemach hielt er inne. Es war still nebenan. Etwas stimmte nicht. Und er hatte eine dunkle Ahnung. Wieder horchte er. Nichts.
Er machte einen letzten Schritt auf die Tür zu. Doch anstatt mehr zu hören von dem, was hinter der dünnen Tür geschah, wurde sie mit einem Ruck aufgerissen. Der Schlag traf ihn mitten auf die Stirn, er wollte greifen, irgendjemanden erwischen, aber seine Hände flogen ins Leere. Wieder ein Schrei, schrill, voller Angst. Dann ertrank er in der Schwärze.

***

Diesmal wachte Rion nicht im weichen Sessel auf. Er saß auf einem Stuhl, kerzengerade an die Rückenlehne gezwungen. Und nicht nur das. Er sah nichts, reine Dunkelheit, weil ein Tuch ihn blind machte. Seine Hände, konnte er sich damit nicht das Tuch vom Kopf reißen? Er versuchte sie zu bewegen. Es ging nicht, weil seine Arme mit Seilen geschnürt waren, die sich rau und eng in seine Haut drückten. Jede Bewegung schnitt fester ins Fleisch.
Jemand hatte ihn niedergeschlagen und an den Stuhl gebunden. Und dieser Unbekannte hatte vorher Kayla überwältigt. Seine Brust zog sich zusammen. Er riss an den Fesseln, obwohl er wusste, wie sinnlos und schmerzhaft es war.
„Kayla!“ Stille schlug ihm auf seinen Ruf entgegen. Einen Atemzug, endlos wie die Nächte des Winters, zwei Atemzüge – noch immer drang kein Laut durch die Dunkelheit. Dann endlich. Aber es war nicht Kayla, die redete, sondern ein Mann. Er verstand kein Wort, das war auch nicht nötig. Die Tür wurde aufgestoßen. Schwere Stiefel knirschten über das Holz. Rion roch schneefeuchte Kleidung und Rauch. Und den süßlichen Geruch eines Duftwassers. Einer der Männer musste ein Syre sein, ein Adliger aus dem Reich der verhassten Cwen Godiva, der Herrscherin über das verfluchte Land im Süden der Insel. Nur Adelige aus Mercia lebten in Prunk und Wohlstand und leisteten sich den Luxus eines Parfüms.
Natürlich hatte er davon gehört, dass in den vergangenen Sommermonden regelmäßig Banden aus Mercia in ihr Land eindrangen und junge Frauen verschleppten. Doch warum jetzt, nach dem Einzug des Winters? Was hatte Cwen Godiva genötigt, einen ihrer Syres den Gefahren von Schnee und Eis auszuliefern? Die Sommer waren kühl und regnerisch, aber die Winter zwangen selbst Einheimische in die Knie. Dál Riada war kein Land, dem man sein Schicksal aus freien Stücken in die Hand gab.
Die Menschenjäger mussten den ersten Schnee genutzt haben, um die Grenzmauer gefahrlos zu überwinden. Das konnte nur eins bedeuten: sie suchten Frauen, die sie verschleppen und an denen sie ihre üblen Gelüste stillen wollten. Hatte ihn also sein Gefühl, das die letzten Stunden vor dem Schlaf in ihm gekeimt war, nicht getrogen. Er biss sich vor Wut über seine Sorglosigkeit heftig auf die Lippen, bis er Blut schmeckte. Sie waren aus Mercia heraufgekommen und in sein Haus eingedrungen. Er schrie seine Verzweiflung heraus, bis ihn ein Schlag quer übers Gesicht verstummen ließ. Sein Kopf sank nach vorne, es brannte vor Schmerz. Seine Gedanken verfingen sich in einem Gespinst von Trauer und Verzweiflung. Sie wollten seine Frau. Sie wollten Kayla.
Und weshalb wurden ihre Frauen verschleppt? Weil sie der grausamen Cwen von Mercia bei ihren frivolen Spielen dienen sollten. Dienen und ihre Ehre verlieren, und das nur wegen ihrer Zauberkräfte. Und dieses Schicksal drohte seiner Liebsten.
„Los, tragt ihn rein!“
Das musste der Mann aus Mercia sein. Der Stuhl wurde angehoben und mit der schlaff hängenden Last in das Zimmer getragen. Das Tuch um Rions Augen wurde gelöst. Eine Vielzahl an Kerzen und der fünfarmige Leuchter erhellten die Szene.
„Gut so. Er soll sehen, was ich mit seiner Braut mache. Solange er noch sehen kann.“ Mit zwei Fingern fuhr er Rion über die Augen, als verschließe er sie wie bei einem Toten.
Wieder legte sich das penetrante Parfüm über ihn. Rion stierte angewidert zu Boden, zur Wand – nur nicht in das Gesicht des Widerlings.
„Schau mich an, wenn ich mit dir rede.“ Der Kerl packte ihn an den Haaren und zerrte ihn herum, bis Rion nicht länger ausweichen konnte. „Du hast Angst, Rion, du bist mir ein schöner Beschützer.“ Er lächelte, tätschelte Rions Wange, als ob er ihm Mut machen wolle, und zwinkerte ihm aufmunternd zu. „Angst, die hätte ich an deiner Stelle auch. Oder was meinst du, Lonnie?“
Diese Augen – in den blauen Abgründen las Rion Verachtung und Begierde.
Lonnie war einer der beiden wilden Gestalten, die sich am Fenster räkelten: dicke Wollkleidung, aber abgerissen und stinkend. „Syre, ich hätte Angst wie ein junges Küken vor der Entjungferung.“
Dabei hieb er seinem Gefährten vor Spaß in die Seite, bis der die Augen verdrehte. „Lass das, sonst wird Syre Stevin dich rannehmen wie die Kleine.“
Aber Rion wurde abgelenkt, von der Bettstatt wehte ein leises Flüstern durch das Zimmer. Er lauschte.
„Guck hin, du Bauer“, befahl der Syre und drehte Rions Kopf, bis es knackte.
Rion stöhnte. Er schlug die Augen nieder. Dann schluchzte er, und grabeskalte Tränen rannen seine Wangen hinab. Gestern noch verschloss er die Augen, obwohl er die Gefahr gespürt hatte. Kaylas ungewöhnliche Reaktion in der Liebesnacht war nicht geheimnisvoll, sie war ein Vorbote. Aus ihr brach hervor, was lange Jahre geschlummert hatte. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Kayla war eine dieser Träumerinnen, eine von der Zauberei vergiftete Frau, in deren Seele die Schwarzen Schmetterlinge lebten. Sie ruhten dort wie in einer Schatztruhe, in dunkler Nacht und in Vergessenheit bis zu dem Tag, an dem sie erweckt wurden.
„Syre, die Kleine wacht auf“, nörgelte der zweite Geselle, der sich von der Wand wegdrückte und zum Bett stapfte.
„Aha, dann beginne ich das kleine Schauspiel“, antwortete der Syre. Am Bett stützte er die Hände in die Seiten, spreizte sehr vornehm die Finger und neigte den Kopf. Sein streng gebundener Zopf fiel wie eine Schlange über seine Schulter.
„Ist mein Kätzchen wieder bei Sinnen“, stellte er fest. Er sprach schmeichelnd, wie eine Raubkatze, die sich behutsam näherte und ihre Beute dann in Stücke riss. Rion stockte der Atem. „Schau nur, wie dein Gemahl uns zwei mit seinen Augen auffrisst. Mach ihm eine Freude, präsentier dich ihm, wie du es vorhin für mich und meine Freunde getan hast.“
Wie aus dem Nichts hielt Syre Stevin eine lederne Gerte in seiner rechten Hand, armlang und dünn wie eine Haselrute. Er schwang sie sanft wie eine Feder hin und her. Wenn sie durch die Luft wippte, durchschnitt das Zischen die zerbrechliche Stille.
Kayla kniete gefesselt auf dem Bett. Ihr Bauch ruhte auf einem weichen Kissen. Beide Arme lagen weit auseinander gestreckt auf einem weißen Laken. Schwere Ledergurte umschlossen die Handgelenke, derbe Seile aus Jute schlängelten sich durch zwei Ösen aus schwarzem Eisen. Sie hingen straff in der Luft und wanden sich um die Bettpfosten. Dicke Knoten zerstreuten letzte Zweifel, ob sich Kayla jemals selbst daraus befreien könnte. Die Beine drückten sich fest gegen die Pfosten. Auch sie steckten in Gurten, Seile zogen sie an die Außenkanten des Eichenbetts, die nackten Sohlen fanden Widerstand am Holzrahmen.
Rion knirschte mit den Zähnen, das Gesicht feuerrot vor Zorn, was ihm einen tadelnden Fingerzeig von Syre Stevin einbrachte.
„Rion, armer Rion, du wirst doch nicht wieder flennen wie ein Waschweib.“ Um anzudeuten, was dann geschehen könnte, klatschte Syre Stevin den Schlag der Gerte auf Kaylas nackten Hintern. Sie stöhnte, ihr Kopf sank in die Kissen. „Siehst du, deiner Kleinen behagt das gar nicht. Oder gefällt dir die kleine Schau sogar, magst du es, wenn dein niedlicher Augapfel ihre Blöße zeigt?“ Ein Grinsen zwischen Aufmunterung und Verachtung stahl sich auf Syre Stevins Lippen, die viel voller waren als seine eigenen und feurig wie die Glut im Kamin.
„Nimm ihr den Knebel raus.“ Die Anweisung galt Lonnie. Unverzüglich entfernte der den Leinenstopfen. Speichel rann aus Kaylas Mundwinkeln, die Körperhaltung verriet äußerste Anspannung.
Syre Stevin tupfte sanft mit der Gerte auf ihren Hintern. „Ein wundervolles Gesäß hat die Kleine, so zart und so furchtbar unschuldig. Hat sie dir damit eigentlich auch die speziellen Freuden geboten?“ Behutsam streichelte er mit der Gerte über ihre Rundung, tanzte mit der Lasche über die höchste Erhebung, um sie dann in die Spalte zwischen den beiden Pobacken eintauchen zu lassen.
Kayla japste, ein heller Laut, bei dem Rion nicht wusste, ob er erschreckt klang oder … lustvoll. Er schluckte hart, fütterte seine wirren Gedanken aber weiter mit jedem Detail vor seinen Augen.
Syre Stevin vergaß kurz seine Arbeit: „Hast du eigentlich gewusst, Rion, was für ein Juwel deine Kleine ist?“ Überrascht hob er eine Augenbraue. „Ach, du hast es nicht gewusst? Deine Kleine hier“, wieder ein Tupfer auf den Hintern, diesmal weniger sanft, „den Hintern hoch! Jedenfalls, deine Kleine trägt verborgene Schätze in ihrem Schoß, Schätze, die Cwen Godiva an ihrem Hofe ungemein schätzt.“
Die beiden Gesellen im Hintergrund lachten, zügelten sich aber auf den Wink ihres Herrn.
„Hast du noch nie etwas von den Schwarzen Schmetterlingen gehört, Rion?“ Ein tadelndes Kopfschütteln.
Rion zerriss es fast vor Wut.
Wieder verlangte der Syre seine Aufmerksamkeit. „Die Schwarzen Schmetterlinge, mein Lieber, sind ein Geschenk des Himmels. Oder der Hölle, je nachdem, auf welcher Seite man steht, diesseits oder jenseits der Grenze.“ Er kicherte. „Ach, die Grenze – dein armseliges Hügelvolk steht jenseits von dem, was unsereins“, er zupfte ein Seidentuch aus dem Ärmel seiner schwarzen Samtjacke und schnäuzte affektiert hinein, „zivilisiert nennt. Deshalb habt ihr auch keine Ahnung von dem hier.“
Syre Stevin tippte dreimal mit der Reitgerte an seine Lederstiefel, holte weit aus, sodass sie eine Kurve bis in seinen Nacken beschrieb, hielt sie dort einen Herzschlag lang, und katapultierte sie mit einem Zischen über seine Schulter auf Kaylas Gesäß. Dort endete die Bewegung mit einem scharfen Klatschen.
Kayla schrie spitz auf.
Rion schluckte. Was er sah, zerstörte seine letzte Hoffnung. Wo die dreieckige Lederklatsche ins Ziel traf, stoben Funken auf, kleine Lichtblitze, gefolgt von tintenschwarzen Wölkchen. Wie Schmetterlinge erhoben sich die feinen Gebilde, entfalteten ihre Flügel auf ihrem Jungfernflug, hüpften durch die träge rauchige Luft, teilten sich hier und dort, wurden mehr und immer mehr, bis eine Schar von ihnen hochflatterte. Syre Stevin beugte sich ihnen entgegen. Er schloss die Augen und sog die Wolkenschmetterlinge ein. Trank sie gierig. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, die einen Fingerbreit geöffnet waren, um den Wölkchen Einlass zu gewähren. Zuletzt aber zerstoben sie wie Schneeflocken in der Sonne. Die Stille war alles, was blieb.
Nein, verbesserte sich Rion, keine Stille, ein Wispern wirbelte im Raum. Es liebkoste seine Ohren. Es war ein Singsang, den er nicht hören wollte. Es war Kayla. Ihre Stimme schwirrte durch das Zimmer, als ob sie die Gefährtin der Schmetterlinge wäre, und auch sie verflüchtigte sich ins Nirgendwo. Erhalten blieb ein Seufzen, das sie ihm zuhauchte. Sie sah ihn an und lächelte. Glücklich.
Syre Stevin erwachte aus der Trance. „Du siehst, Rion, deine Kleine trägt den Zauber, der die Herzen gefangen nimmt, in ihrer Seele. Seine verzehrende Leidenschaft steigert unsere Lebenskraft, macht uns stark und unverwundbar. Und das macht die Träumerinnen kostbarer als alles Gold.“ Er legte seinen Zeigefinger an die Lippen und kostete den Nektar, den die Schmetterlinge auf ihrem Flug versprüht hatten.
„Du hast deine Liebste verloren, Mann!“, brach es plötzlich mit Wucht aus Syre Stevin, und seine Augen zuckten wild. „Wir bringen sie zur Cwen, dort wird aus ihr ein Prachtexemplar geschnitzt, auf das du stolz sein kannst. Die Cwen wird erfreut sein über ein derart hübsches … Ding. Und stolz auf mich.“ Er schnippte mit der Gerte nach Rion. „Und du, mein Bester, wirst davon träumen, was deine kleine Kayla alles erdulden wird. Nicht wahr, Träumerin?“
Kayla nickte nur, dann taumelte ihr Kopf wieder in die weichen Kissen. Sie stöhnte friedlich.
Rion war nahe daran, wahnsinnig zu werden. „Du Dreckskerl, wag dich nur“, schrie er dem Syre zu.
Der winkte abfällig und nickte dem zweiten Gesellen zu. „Fowler, meine Peitsche.“
Aus einer Tasche, die unbeachtet auf dem Boden lag, wühlte Fowler das Utensil hervor, und reichte es Syre Stevin. Rion kannte diese einschwänzige Peitsche mit dem handlichen Griff und der kurzen Schnur: die Schäfer benutzten sie zur Hundedisziplin. Jetzt sollte sie zweckentfremdet werden. Die Peitschenschnur lief durch Syre Stevins Hand, die in einem weichen Lederhandschuh steckte. Liebevoll, bedächtig. Dann streichelte er die Schmitze am Ende der Lederschnur zwischen seinen Fingern.
Plötzlich platzte der schrille Laut eines Käuzchen von draußen herein. Kayla schreckte auf. „Runter mit dir“, brauste Syre Stevin auf. Im selben Atemzug hüpfte die dünne Lederschnur weit hinter ihn, berührte wie ein tanzender Funken den Boden, verweilte dort, um Kraft zu sammeln, schnellte dann nach vorne, strich an der Decke des Zimmers entlang und knallte auf das bloße Hinterteil seines Opfers.
Das Leder perlte über die bleiche Haut, wischte von der rechten Seite, dort wo die Rundung in eine kleine Kuhle überging, über die Kerbe in der Mitte, und setzte seinen zischenden Pfad fort bis zur anderen Pobacke. Die Schmitze setzte mit einem satten Seufzen auf.
Kayla keuchte vor Schmerz und bäumte sich auf. Ihre Augen suchten Schutz bei Rion, um in einem Moment, in dem die Zeit stillzustehen schien, ihre Schatten abzuwerfen und unergründlich zu leuchten. Wieder lächelte sie. Diesmal war es ein verstohlenes Lächeln, und ihre Augen baten um Vergebung.
Syre Stevin zog die Peitsche durch. Die Lederschnur torkelte erschöpft auf den Boden. Sie hinterließ eine rote Spur auf dem Hintern ihres Opfers, kleine blutige Sprengel zeichneten ein Muster, die ihre Farbe in ein sattes Schwarz änderten. Die Tropfen vergrößerten sich, formten Beinchen und kleine Körper und Flügel, die sie zaghaft öffneten. Kaylas Lippen formten sanfte Worte, mit denen sie die schwarzen Schmetterlinge auf die Reise schickte. Sie flogen auf, wilder und ungebändigter als nach dem Gertenschlag, schlüpften ineinander, stoben voneinander, lösten sich von dem Leib, der sie geboren hatte.
„Sie kann es“, flüsterte Syre Stevin andächtig.
Er trat näher an das Schauspiel heran, hungrig, den unnatürlichen Erguss ein zweites Mal zu empfangen. Die Schmetterlinge spielten um sein Gesicht, bis sie nur noch schwarze Schatten waren, die in Nase und Mund drangen. Ein Schauder schüttelte seinen Körper bis in sein Innerstes, er griff sich in den Schritt und atmete schwer. Nach wenigen Minuten straffte sich Syre Stevin. Seine dürre Gestalt schien weniger zerbrechlich als zuvor, seine Gesichtszüge aber blieben gespannt. Er rieb sich über die Stirn und flüsterte einige unverständliche Worte, bevor er sich an seine Begleiter wandte:
„Dem da verbindet wieder die Augen, aber vorher …“, er suchte in seiner Gürteltasche. In einem Beutelchen bewahrte er einen besonderen Edelstein auf: einen reinen Diamanten, groß wie ein Daumennagel, roh und ungeschliffen, „soll er das hier sehen.“
Rion sah den Edelstein, entdeckte darin ein rotes Funkeln wie Feuer.
„Mein Wegweiser. Sobald ein Schwarzer Schmetterling ihm nahe ist, strahlt er. Sieh nur, rot wie die Morgensonne, wenn sie den Tag begrüßt. Und weißt du weshalb? Weil deine Liebste eine von den Schwarzen Schmetterlingen ist, und sogar ein besonderer, sonst würde mein kleiner Schatz nicht so leuchten.“ Tausend kleine Funken sprühten in dem Diamanten. Sorgfältig verstaute Syre Stevin den Edelstein.
„Und jetzt packt mir die Kleine aufs Pferd. Wir sehen zu, dass wir noch in der Nacht die Grenze passieren.“
Die beiden Gestalten lösten sich aus der Erstarrung. Rion wurde wieder das Augenlicht genommen, aber er hörte viel zu gut, wie sie Kayla aus dem Zimmer brachten.
„Ich lasse dich am Leben, Rion, mir ist einfach danach. Sei froh, ich habe einen guten Tag. Doch nun, mein Freund, leb wohl. Du weißt ja, wo du mich findest. In Mercia am Hofe der Cwen.“ Syre Stevin lachte lauthals und ging.
Rion schreckte auf, als die Tür zugeschlagen wurde. Wenig später hörte er die Hufschläge der Pferde, die in der Ferne verklangen. Totenstille legte sich über ihn. Er wartete.
Hörte er nicht Schritte auf dem Hof? Kurz hoffte er, dass sich die Tür öffnete und seine Nachbarn ihn befreiten. Das feige Pack traute sich nicht. Sie hatten Angst. Wie ihn die Feiglinge ankotzten. Am Abend würden sie sich in der Dorfschenke den Mund über ihn zerreißen und schwadronieren, was für ein armes Schwein er wäre. Aber auf Hilfe wartete er umsonst. Er musste es selbst in die Hand nehmen. Die Fesseln rissen ihm weiter die Haut auf, das Blut rann als dünner Faden auf seine Hose.
Nach endlosen Stunden hatte er Erfolg, eine Fessel löste sich, sodass er die Hand durch die Schlaufe zwingen konnte. Hastig füllte er seinen Rucksack mit Kleidung, Nahrung für die ersten Tage, die gesparten Münzen, mit denen sie für schlechte Zeiten vorgesorgt hatten. Mehr brauchte er nicht. Ein dicker Wintermantel musste ihn vor der Kälte schützen, die für lange Zeit sein einziger Begleiter sein würde. Ein letzter Blick zurück: ihr Haus und ihr kleines Stück Land – er wusste nicht, ob er es jemals wiedersah.
Mercia und der Hof von Cwen Godiva waren sein Ziel. Seine Hand fuhr zu dem Dolch, der in seinem Gürtel steckte. Er umklammerte den harten Griff. Dann stapfte er durch den Schnee nach Süden.

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